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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0633
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Stellenkommentar JGB 219, KSA 5, S. 153 613

darum verlegen gewesen, das zu definieren, was er den Bürger nannte, - und
er hat die Hälfte seines Lebens damit zugebracht, die flachsten bürgerlichen
Sitten, Konversationen, Figuren zu beobachten, zu berichten, zu beschreiben!
Sein letztes Buch [sc. Bouvard et Pecuchet], dieses am Tag seines Todes beende-
te Buch, ist, sagt man, das Dossier der bürgerlichen Dummheit. An welchem
Punkt unterschied sich also die Ästhetik des Schriftstellers von Ideen des Man-
nes? Flaubert hatte Abscheu vor der Alltäglichkeit des zeitgenössischen Le-
bens, vor der Banalität der täglichen Existenz, vor den Dummheiten und Ge-
meinplätzen der üblichen Gespräche. Aber die Feder aufnehmend, änderte sich
alles in seinem Geist: Er fand keine interessantere Aufgabe als mit großer Ar-
beitsanstrengung die schäbigen Leidenschaften, die törichten Eitelkeiten und
die unauffälligen Charaktere dieser Gesellschaft zu bescheiben, die er in der
Wirklichkeit verabscheute.“) Seinem Roman Bouvard et Pecuchet wollte Flau-
bert zweitweilig den Untertitel „Encyclopedie de la betise humaine“ geben. Zu
N. und Flaubert vgl. z. B. auch NK KSA 6, 64, 18 und NK KSA 6, 64, 18 f.
153, 30 Oder, noch deutlicher] In KSA 5,153, 30 steht statt „deutlicher“ „heutli-
cher“. So schön dieser originelle Neologismus, der sogar in diverse moderne
Übersetzungen eingegangen ist, auch anmutet: Es handelt sich um einen simp-
len Druckfehler in den Ausgaben von Colli und Montinari, heißt es doch in der
Erstausgabe unmissverständlich: „deutlicher“ (Nietzsche 1886, 164).
153, 31 „homo bonae voluntatis“] Der Engelchor verkündet nach der lateini-
schen Fassung von Lukas 2, 14: „in terra pax hominibus bonae voluntatis“
(„Frieden auf Erden den Menschen guten Willens“), vgl. NK 125, 1-126, 3 u.
NK 137, 10-15. Die Gutwilligkeit wurde bei N. zum Inbegriff des attackierten
moralischen „Mittelmaasses“ (153, 20): Wer „guten Willens“ zu sein behauptet
(vgl. auch Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sittenl), gebe sich (oft genug)
über die wahren Beweggründe seines Willens keine Rechenschaft.

219.
JGB 219 führt einen Gedanken weiter, den N. bereits 1880 in sein Buchprojekt
L’Ombra di Venezia aufnehmen wollte: „Die moralische Beurtheilung der Men-
schen und Dinge ist ein Trostmittel der Leidenden, Unterdrückten, innerlich
Gequälten: eine Art Rache-nehmen.“ (NL 1880, KSA 9, 3[69], 65, 15-17, dazu
Brusotti 1997, 91.) In NL 1884, KSA 11, 25[492], 143, 7f. wird der Gedanke um
das Stichwort der Rangordnung erweitert: „Von der Rang-Ordnung. / Wo
»moralisch4 geurtheilt wird, höre ich die feindseligen Instinkte, Abneigun-
gen, verletzte Eitelkeiten, Eifersucht“. Beschränken sich diese Vorarbeiten aber
 
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