Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0634
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
614 Jenseits von Gut und Böse

darauf, das moralische Urteil als Mittel der Herabsetzung überlegener Men-
schen selbst moralisch-metamoralisch zu verurteilen, erweist JGB 219 diese Mo-
ral als schöpferisch: „Bosheit vergeistigt“ (154, 6). Jetzt wird stipuliert, dass
„hohe Geistigkeit selber nur als letzte Ausgeburt moralischer Qualitäten“ (154,
16 f.) bestehen könne. Demnach scheint eine Art dialektischen Umschlagens
(„Synthesis“ - 154, 18) die Moral auf die Stufe außermoralischer Geistigkeit zu
heben. Für „unsere Tugenden“ könnte daraus folgen, dass wir (oder unsere
Vorfahren? - vgl. JGB 213, KSA 5, 148, 30-33) erst alle moralischen Stadien
durchlaufen haben müssen, um Zukunftsphilosophen zu werden.
154, 10 „Gleichheit Aller vor Gott“] Vgl. NK 83, 17-28. Diese weit verbreitete
Formel ist kein Bibel-Vers, aber sie wird gerne auf Stellen wie Römer 3, 22-
24 zurückgeführt (vgl. auch Theißen 2008, 52). Aus dieser Vorstellung einer
Gleichheit vor Gott wurde in der Christentumsgeschichte oft die Forderung
nach der Gleichheit vor dem Gesetz erhoben, beispielsweise unter Berufung
auf Laktanz: Divinae institutiones V 15: „Si enim cunctis idem pater est, aequo
iure omnes liberi sumus“ („Wenn er [sc. Gott] nämlich sämtlichen [Menschen]
derselbe Vater ist, sind wir alle Kinder mit gleichem Recht“).
154,15-25 — ich werde mich hüten, es zu thun. Vielmehr möchte ich ihnen mit
meinem Satze schmeicheln, dass eine hohe Geistigkeit selber nur als letzte Ausge-
burt moralischer Qualitäten besteht; dass sie eine Synthesis aller jener Zustände
ist, welche den „nur moralischen“ Menschen nachgesagt werden, nachdem sie,
einzeln, durch lange Zucht und Übung, vielleicht in ganzen Ketten von Geschlech-
tern erworben sind; dass die hohe Geistigkeit eben die Vergeistigung der Gerech-
tigkeit und jener gütigen Strenge ist, welche sich beauftragt weiss, die Ordnung
des Ranges in der Welt aufrecht zu erhalten, unter den Dingen selbst — und
nicht nur unter Menschen.] In der Reinschrift hieß es stattdessen: „Mein Satz
ist, daß jede hohe Geistigkeit nur als letzte Ausgeburt moral. Qualitäten be-
steht: sie vereinigt alle jene Zustände, welche dem moral. Menschen nachge-
sagt werden, um überhaupt zu funktionieren“ (KSA 14, 364). Die
Druckfassung ist viel erklärungsfreudiger und bringt den Gedanken der Rang-
ordnung, der bereits in der Aufzeichnung NL 1884, KSA 11, 25[492], 143, 7 (mit-
geteilt in NK ÜK JGB 219) ausgesprochen wurde, erneut ins Spiel.

220.
JGB 220 und der Eingang von JGB 221 dienen der Demonstration, dass Uninte-
ressiertheit und Uneigennützigkeit - »„desinteresse4“ (155, 6) bedeutet sowohl
»uninteressiert4 als auch »uneigennützig4 - gefährliche Verführungskräfte für
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften