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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0635
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Stellenkommentar JGB 220, KSA 5, S. 154-155 615

„unsere Tugenden“ darstellen können und daher intellektuell neutralisiert
werden müssen.
154, 27-155, 13 Bei dem jetzt so volkstümlichen. Lobe des „Uninteressirten“
muss man sich, vielleicht nicht ohne einige Gefahr, zum Bewusstsein bringen,
woran eigentlich das Volk Interesse nimmt, und was überhaupt die Dinge sind,
um die sich der gemeine Mann gründlich und tief kümmert: die Gebildeten einge-
rechnet, sogar die Gelehrten, und wenn nicht Alles trügt, beinahe auch die Philo-
sophen. Die Thatsache kommt dabei heraus, dass das Allermeiste von dem, was
feinere und verwöhntere Geschmäcker, was jede höhere Natur interessirt und
reizt, dem durchschnittlichen Menschen gänzlich „uninteressant“ scheint: — be-
merkt er trotzdem eine Hingebung daran, so nennt er sie „desinteresse“ und wun-
dert sich, wie es möglich ist, „uninteressirt“ zu handeln. Es hat Philosophen gege-
ben, welche dieser Volks-Verwunderung noch einen verführerischen und mystisch-
jenseitigen Ausdruck zu verleihen wussten (— vielleicht weil sie die höhere Natur
nicht aus Erfahrung kannten?) — statt die nackte und herzlich billige Wahrheit
hinzustellen, dass die „uninteressirte“ Handlung eine sehr interessante und in-
teressirte Handlung ist, vorausgesetzt ....] Vgl. NK 52, 2-14 u. NK KSA 6,133, 28-
30. Der Witz dieser Ausführungen besteht darin, dass sie das, was die philoso-
phisch-ethische Tradition für die erhabenste Höhe menschlicher Selbster-
kenntnis und praktischer Selbstbestimmung hält, nämlich die Einsicht in die
Gebotenheit uninteressierten, uneigennützigen Handelns, als ein Volksvorur-
teil abtun. Dieses Vorurteil gründe auf einer falschen Wahrnehmung dessen,
was überlegene Geister tatsächlich interessiert, weil dieser Gegenstand des In-
teresses aus Volksperspektive gar keines Interesses wert sein könne. Der JGB
220 zugrunde liegende Gedanke besagt, dass jede Form von Wahrnehmung
und Handlung, um überhaupt Wahrnehmung und Handlung zu sein, von Inte-
resse bestimmt ist. Das heißt nicht, dass der Sprecher einfach nur in moralisti-
scher Tradition hinter jeder Lebensregung Egoismus lauern sähe. Vielmehr be-
deutet hier Interesse Intentionalität - Gerichtet-Sein auf Etwas, im Wahrneh-
men ebenso wie im Handeln. Wer nicht interessiert ist, kann weder
wahrnehmen noch handeln.
Die Frontstellung gegen Moralen, die die Interesselosigkeit und Uneigen-
nützigkeit in vorderster Reihe platzieren, ist in N.s Texten häufig Thema, sei
es doch eine christliche „Mode“, „den Menschen der sympathischen und unin-
teressirten Handlungen als den moralischen anzusehen“ (NL 1880/81, KSA
9, 1O[D59], 425, 8 f.), was den Menschen notwendig schwäche, wie N. gegen
Spencer 1879 einwandte (NL 1880/81, KSA 9,10[D60], 426). Als negative Helden
einer Identifikation von „Moral und desinteressement“ werden sodann aus-
drücklich „Baudelaire und Schopenhauer“ benannt (NL 1884, KSA 11, 25[178],
61, 18-20), zu denen sich in NL 1884, KSA 11, 26[389], 253, 10 noch Comte
 
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