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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0636
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616 Jenseits von Gut und Böse

gesellt - nicht zu vergessen schließlich Renans Jesus, der von einem „zele des-
interesse“ beseelt gewesen sein soll (NL 1886/87, KSA 12, 5[43], 200, 2, ent-
spricht KGW IX 3, N VII 3, 143, 16-18, vgl. zu Renans Interesse an der Desinte-
ressiertheit auch NK 70, 4-11).
Während JGB 220 den Glauben an die moralische Exzellenz der Uninteres-
siertheit als populären Irrtum enttarnen möchte, gibt sich das Gros der von
N. zum Thema rezipierten Autoren von dieser Exzellenz überzeugt: „Mit der
Entwicklung der Civilisation erstarkt diese erziehende Kraft der öffentlichen
Meinung, sie bildet allmälig die Charaktere der Menschen und macht sie mehr
und mehr uninteressirt, heroisch und uneigennützig. Ein uninteressirter, unei-
gennütziger und heroischer Mensch heisst Einer, der die Erlangung des eige-
nen Interesses fest im Auge hat, aber dies in einer solchen Weise erstrebt, dass
dessen Befriedigung auch die Glückseligkeit Anderer in sich schliesst.“ (Lecky
1879, 1, 11. Doppelte Randanstreichung von N.s Hand.) Während bei Kant die
Rede von der Uninteressiertheit oder Interesselosigkeit ihren Ort zunächst in
der Ästhetik hatte (mit N.s Gewährsmann Kuno Fischer gesprochen: „Das rein
ästhetische Wohlgefallen ist vollkommen uninteressirt.“ Fischer 1860, 2,
571), und er die ethische Ausweitung nur unter Vorbehalt vornahm („Ein Ur-
theil über einen Gegenstand des Wohlgefallens kann ganz uninteressirt, aber
doch sehr interessant sein, d. i. es gründet sich auf keinem Interesse, aber es
bringt ein Interesse hervor; dergleichen sind alle reine moralische Urtheile.“
AA V, 205 Fn.), machten die bereits genannten, zeitgenössischen Autoren mit
der Forderung nach einer uninteressierten Moral ernst. In Kants Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten wird unter „Interesse“ das verstanden, „wodurch Ver-
nunft praktisch, d. i. eine den Willen bestimmende Ursache wird“ (AA IV, 459),
wobei sich ein reines Interesse der praktischen Vernunft ausschließlich auf die
Allgemeingültigkeit der Maxime beziehen soll. In der Kritik der Urtheilskraft
gilt als Interesse „das Wohlgefallen [...], das wir mit der Vorstellung der Exis-
tenz eines Gegenstandes verbinden“ (AA V, 204, vgl. NK 52, 2-14). Dem reinen
ästhetischen Urteil über das Schöne soll aber das Dasein des Gegenstandes
gleichgültig sein; daher die Forderung nach einem interesselosen Wohlgefal-
len. In der von N. vor allem konsultierten, französischen Literatur, die im Wort
desinteressement sowohl die Uninteressiertheit/Interesselosigkeit als auch und
zur Hauptsache die Uneigennützigkeit fasste, wurde Kants Differenzierung ab-
geschliffen. Namentlich beim Lesen von Jean-Marie Guyaus Esquisse d’une mo-
rale sans Obligation ni sanction wurde N. Zeuge einer leidenschaftlichen Ausei-
nandersetzung mit der „vertu d’un pur desinteressement“ („Tugend eines rei-
nes desinteressement“): „ce pur desinteressement est impossible ä constater
comme fait et son existence a de tout temps ete controversee“ (Guyau 1885,
7 - „dieses reine desinteressement ist unmöglich als Tatsache zu konstatieren
 
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