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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0698
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678 Jenseits von Gut und Böse

gen. So groß auch die Unterschiede der Stellung sind, die noch bestehen blei-
ben, sie sind verschwindend klein im Vergleich mit denen, die beseitigt sind.
Und dieser Ausgleichungsproceß ist noch in vollem Gange. Alle politischen
Umgestaltungen, begünstigen ihn, weil sie alle dahin zielen, die Niedrigen zu
erhöhen und die Hohen zu erniedrigen. [...] Die Verbesserung der Verkehrsmit-
tel beschleunigt ihn, weil sie die Einwohner entfernter Gegenden in persönli-
che Berührung bringt, und den Austausch der Bevölkerung zwischen verschie-
denen Oertlichkeiten in stetigem und raschem Fluß erhält. Die Steigerung der
Handels- und Gewerbsthätigkeit wirkt in derselben Richtung, weil sie die Vor-
theile einer sorgenfreien Lebensstellung auf weitere Kreise ausdehnt und selbst
die höchsten Ziele des Ehrgeizes zum Gegenstand einer allgemeinen Bewer-
bung macht, wodurch das Verlangen höher emporzusteigen aufhört das unter-
scheidende Merkmal einer bestimmten Classe zu sein und auf alle Classen
übergeht. Noch gewaltiger als selbst durch alle diese Factoren wird die Gleich-
förmigkeit aller Menschen durch den Umstand gefördert, daß bei uns und in
anderen freien Ländern der öffentlichen Meinung ein entscheidendes und voll-
ständiges Uebergewicht im Staatsleben gesichert ist.“ (Mill 1869-1886, 1, 75 f.)
Die Nivellierung von Unterschieden ist bei N. wie bei Mill die Signatur der
demokratischen Gegenwart; ob die von Mill nicht geteilte Tyrannenoption die
Unterschiede wieder restituieren kann, steht allerdings dahin (ebenso, ob die
Signatur der Gegenwart von den beiden richtig erkannt worden ist: Zeichnet
sich die Moderne nicht in vieler Hinsicht durch die Zunahme von Unterschie-
den, von „Mannigfaltigkeit der Situationen“ aus? Vielleicht führen nomadische
Existenzformen - vgl. NK182,15-27 - gerade zur Vermehrung der Unterschiede
statt zu ihrer Einebnung). Zur Interpretation von JGB 242 vgl. auch Mattenklott
2008, 139-141, ferner Schank 2000, 231 u. 259 f.
182, 11-15 Nenne man es nun „Civilisation“ oder „Vermenschlichung“ oder
„Fortschritt“, worin jetzt die Auszeichnung der Europäer gesucht wird; nenne
man es einfach, ohne zu loben und zu tadeln, mit einer politischen Formel die
demokratische Bewegung Europa’s] JGB 202, KSA 5, 125, If. erklärt die
„demokratische Bewegung“ ausdrücklich zur Erbin der „christlichen“,
während JGB 203, KSA 5,126, 5-8 nachdoppelt, für das „Wir“ habe „die demo-
kratische Bewegung“ als „Verfalls-, nämlich Verkleinerungs-Form des Men-
schen“ zu gelten (vgl. auch NL 1885, KSA 11, 36[17], 558, 24-31 = KGW IX 4, W
I 4, 34, 37-46 u. 35, 36-40). Der aufmerksame Leser wird einen lob- und tadel-
freien Gebrauch der „Formel“ „demokratische Bewegung“ in JGB 242 für
wenig glaubhaft halten, wird sie doch sonst bei N. durchweg polemisch ge-
braucht (vgl. z.B. NL 1885, KSA 11, 38[6], 602, 23 f. u. NL 1885/86, KSA 12,
1[179], 50,16 f. = KGW IX 2, N VII 2, 81,16). Die Formel selbst war in der zeitge-
nössischen Literatur sehr häufig; beispielsweise notierte Lecky 1873, 2, 173:
 
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