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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0699
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Stellenkommentar JGB 242, KSA 5, S. 182 679

„Die natürliche Unfähigkeit des Katholicismus zur Leitung der demokratischen
Bewegung hatte sich im achtzehnten Jahrhundert noch bedeutender vergrös-
sert [...]. Da nun der Katholicismus auf diese Weise zum Vertreter des Despotis-
mus geworden, [...] so fiel die Führerschaft der demokratischen Bewegung
nothwendigerweise in die Hände der Freidenker.“ Bei Grote 1850-1856, 2, 14
konnte sich N. darüber unterrichten, dass mit der Abschaffung des „Heroenkö-
nigthums“ im Alten Griechenland immer Oligarchien entstanden seien: „das
Zeitalter der demokratischen Bewegung lag noch sehr fern“. Während JGB 242
sich in das Kommen eines durchdemokratisierten Europa zu schicken scheint,
um freilich am Ende die Aussicht auf neue, der allgemeinen Nivellierung er-
wachsender „Tyrannen“ (183, 25) zu eröffnen, liebäugelt das sprechende
Ich in einem Nachlass-Notat mit der eschatologischen Rolle des Katechon, des
Aufhalters: „Ich nehme die demokratische Bewegung als etwas Unvermeidli-
ches: aber als etwas, das nicht unaufhaltsam ist, sondern sich verzögern läßt.“
(NL 1885, KSA 11, 34[108], 456, 15-17, entspricht KGW IX 1, N VII1, 119, 1-5).
182, 11 Zivilisation“] Im Druckmanuskript stand stattdessen: „Cultur“ (ohne
Anführungszeichen, KSA 14, 368).
182,15-27 hinter all den moralischen und politischen Vordergründen, auf wel-
che mit solchen Formeln hingewiesen wird, vollzieht sich ein ungeheurer phy-
siologischer Prozess, der immer mehr in Fluss geräth, — der Prozess einer
Anähnlichung der Europäer, ihre wachsende Loslösung von den Bedingungen,
unter denen klimatisch und ständisch gebundene Rassen entstehen, ihre zuneh-
mende Unabhängigkeit von jedem bestimmten milieu, das Jahrhunderte lang
sich mit gleichen Forderungen in Seele und Leib einschreiben möchte, — also
die langsame Heraufkunft einer wesentlich übernationalen und nomadischen Art
Mensch, welche, physiologisch geredet, ein Maximum von Anpassungskunst und
-kraft als ihre typische Auszeichnung besitzt] Dieser Diagnose einer europä-
ischen Kulturvermischung mit nomadisierenden Individuen liegt MA I 475,
KSA 2, 309, 4-13 zugrunde: „Der europäische Mensch und die Ver-
nichtung der Nationen. — Der Handel und die Industrie, der Bücher-
und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Cultur, das schnelle Wech-
seln von Ort und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht-Landbesit-
zer, — diese Umstände bringen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine
Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus
ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Mischrasse, die des eu-
ropäischen Menschen, entstehen muss.“ Diese Vorlage macht deutlich, dass
die dann in Gilles Deleuzes Konzept einer nomadischen Wissenschaft einge-
gangene Rede von der „nomadischen Art Mensch“ nicht einfach nur eine schö-
ne Metapher ist, sondern ein hartes soziales Fundament hat: Wer über keinen
 
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