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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0700
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680 Jenseits von Gut und Böse

Grundbesitz verfügt und auch nicht durch Leibeigenschaft an die Scholle ge-
bunden ist, ist oft genug zum Wandern verurteilt, um seine Subsistenz zu si-
chern (vgl. zur nomadischen Existenzform der Juden NK 194, 20). Ungleich
stärker als in MA I 475 tritt in JGB 242 der „physiologische“ Aspekt in den
Vordergrund: Die Menschen verändern sich in ihrer biologischen Natur, wenn
sie nicht mehr an bestimmte Umwelten und äußere Prägefaktoren gebunden
bleiben. Auch in MA I 475, KSA 2, 309 f. ist wie in JGB 242, KSA 5,182, 30 f. der
Nationalismus der voraussichtlich erfolglose Gegenspieler dieser allgemeinen
europäischen Verschmelzungs- und Verähnlichungstendenzen, die MA I 475
zunächst allerdings viel positiver zu beurteilen scheint als JGB 242. Auffällig
ist, dass JGB 242 nicht genau erläutert, wie diese Vermischung der Europäer
mit der „demokratischen Bewegung“ zusammenhängt. Ist diese „demokrati-
sche Bewegung“ einfach nur der oberflächliche Ausdruck einer viel tiefergrei-
fenden, „physiologischen“ Veränderung (so die Eingangsuggestion) und damit
im Prinzip zu vernachlässigen, oder ist diese Veränderung viel eher die Folge
einer durch politische Ideen der Gleichheit bewirkten „Vermittelmässigung des
Menschen“ (183, 5)?
Während das Kompositum „Anpassungskunst“ vor JGB 242 im deutschspra-
chigen Schrifttum nicht nachweisbar ist (es wird in FW 361, KSA 3, 609, 11 f.
gleichfalls bemüht), hat die „Anpassungskraft“ einen darwinistischen Zungen-
schlag. Sie kehrt als „jene Anpassungskraft, welche immer wechselnde Bedin-
gungen durchprobirt und mit jedem Geschlecht, fast mit jedem Jahrzehend, eine
neue Arbeit beginnt“, in 183, 9-12 wieder (sowie in GM 117 u. GM III17), ist aber
im Unterschied zur „Anpassungsfähigkeit“ (vgl. Horn 2010, 128) weder in der
zeitgenössischen biologischen noch in der anthropologischen Literatur verbrei-
tet. Unter den von N. gelesenen Autoren kann der Begriff bislang nur bei Otto
Caspari nachgewiesen werden, und zwar in einem Passus, der von der Tendenz
der Urmenschen handelt, sich alle Objekte als belebt vorzustellen. „Ob und wo-
durch jedoch der Mensch diese thätigen und lebendig vorgestellten Objecte ur-
sprünglich in das Gebiet des Erhabenen und des religiösen Interesses zog, ge-
genüber der von ihm doch andererseits festgestellten Anpassungskraft, darüber
führt Darwin keinen genügenden Grund an“ (Caspari 1877,1,349).
182, 22 milieu] Der namentlich von Hippolyte Taine pointierten Theorie zufol-
ge prägt neben race und moment das Milieu - Umwelt oder Umgebung - Per-
sönlichkeiten und Gesellschaften (vgl. Taine 1878b, 1, 15 f.). Besonders in dem
von N. rezipierten literaturwissenschaftlichen Schrifttum spielt die Milieu-
Theorie eine wichtige Rolle. Vgl. NK KSA 6, 145, 25-28 u. Feuerhahn 2014a.
182, 31 Sturm und Drang] Im Druckmanuskript stand stattdessen: „Atavismus“
(KSA 14, 368). N. benutzt die auf ein gleichnamiges Drama von Friedrich Maxi-
milian Klinger (1777) zurückgehende Wendung „Sturm und Drang“ nicht, wie
 
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