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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0702
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682 Jenseits von Gut und Böse

das Deutschtum. (Aus einem verpönten Buche.)“, dazu Kr I 138) lautet nach
KGW IX 4, W I 5, 32 u. 30 in der unkorrigierten, ersten Fassung (Wiedergabe
in KSA 14, 368 f. lücken- und fehlerhaft): „Man nennt die Deutschen tief: drü-
cken wir das Thatsächliche davon weniger schmeichlerisch aus und geben wir
womöglich seine Erklärung. Die deutsche Seele ist vielfach, verschiedenen Ur-
sprungs, mehr zusammen- und übereinandergesetzt als wirklich gebaut. Wer
als Deutscher die Behauptung aufstellen wollte ,zwei Seelen wohnen, ach! in
meiner Brust4, der würde weit hinter der Wahrheit Zurückbleiben. Als ein Volk
der ungeheuerlichsten Mischung von Rassen, vielleicht sogar mit einem Über-
gewicht des vor=arischen Elementes, gemäß seiner europäischen Stellung als
Volk der Mitte4, sind die Deutschen unfaßbarer, umfänglicher, widerspruchs-
reicher, sich selber unbekannter, unberechenbarer, überraschender, selbst er-
schrecklicher als es andre Völker sich selber sind: es kennzeichnet die Deut-
schen, das [sic] bei ihnen die Frage ,was ist deutsch4 niemals ausstirbt. Der
Deutsche hat tiefe Gänge und Zwischengänge in sich, Höhlen, Verstecke, Burg-
verließe; seine Seele ist unordentlich, er kennt die Wege zum Chaos. Und wie
jeglich Ding sein Gleichniß liebt, so liebt der Deutsche die Wolken und alles,
was unklar, werdend, dämmernd, feucht und wolkig ist. Die Ausländer stehen
erstaunt vor der ,reflektirten Naivetät4 des Deutschen; die Vereinigung von »Ge-
nie4 und »niaiserie allemande4, wie sie unserem größten Dichter zu eigen ist,
beunruhigt sie. Goethe selber hat einmal das berühmte »deutsche Gemüth4 defi-
nirt, wie vom Auslande her, mit einer ungeduldigen Ablehnung dessen, was
ihm selber am meisten Noth gemacht hat: als »Nachsicht mit fremden und eige-
nen Schwächen4. Gutmüthig und tückisch - ein solches Nebeneinander von
Prädikaten würde in Bezug auf andre Völker widersinnig sein: aber man lebe
nur unter Schwaben! Die äußere Schwerfälligkeit rdes Deutschen'', seine gesell-
schaftliche Abgeschmacktheit - man vergegenwärtige sich geschwind einen
Baiern, der Bier trinkt! - ist wesentlich eine Folge des ungeordneten inneren
Haushalts seiner Seele: er schleppt daran. Alle disciplina animae fehlt, aller
Sinn für Sauberkeit der Tonnen und'' Begriffe; das Edelste und Gemeinste wird
neben einander gestellt, der deutsche Geschmack ist eine bäurische Gleichgül-
tigkeit gegen Geschmack. Was Alles der Deutsche erlebt - und es geht viel in
ihm vor! - er wird schlecht damit fertig; seine Seele verdaut langsam, r- und"1
er ißt von Neuem, bevor er noch das Alte verdaut hat. Jawohl, die Deutschen
sind tief! Und ihre »Offenheit4 und »Biederkeit4 gehören nur zu ihrem Vorder-
gründe! Alle Langwierig=Kranken, alle Dyspeptiker haben den Hang zum Be-
quemen: wie bequem ist es, offen und bieder zu sein! Es ist lange nicht so sehr
das Ungeschick des Geistes und der Sinne, was die Deutschen so »zutraulich4,
so »entgegenkommend4 macht, als ein Bewußtsein davon, wie viel Mühe es
''kostet'' macht, streng, fein, vorsichtig und vornehm zu sein. Freilich: sobald
 
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