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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0703
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Stellenkommentar JGB 244, KSA 5, S. 184 683

einmal, in einem Ausnahmefall ein deutscher Geist geräth, und in ihm Ein
Wille über die »vielen Seelen4 kommandiren lernt, dann ist solch ein Ausnah-
me=Deutscher auch sofort gefährlicher, kühner, verwegener, geheimer, um-
fänglicher, ungeheurer, verschlagener (- und, folglich, »offenherziger4 -) als
die anderen Europäer sich auch nur vorstellen können. Goethe hätte nicht nur
den Mephistorpheles'' aus der deutschen Seele herausziehen können, sondern
noch sehr viel gefährlichere, auch wohl interessantere »Teufel4. Ich meine,
Friedrich der Zweite von Preußen war schon ein interessanterer Mephistophe-
les als jener mäßig boshafte Kamerad des schwermüthigen Universitätsprofes-
sors Faust: gar nicht zu reden von jenem anderen rund größeren'' Friedrich
dem Zweiten, dem geheimnißvollen Hohenstaufen. - Alle tiefen Deutschen
sind bisher, leiblich oder geistig, ȟber die Alpen4 gestiegen: sie glauben an ihr
Anrecht auf den »Süden4 - sie können sich nicht anders fühlen, denn als Her-
ren Europa’s. -“ Zur „niaiserie allemande“ vgl. NK 24, 29; zu Friedrich II. von
Preußen als Mephisto NK 141, 34-142, 1 sowie NL 1885, KSA 11, 34[97], 452f.
(KGW IX 1, N VII1, 129 f.). Im Unterschied zu KGW IX 4, W I 5, 32 u. 30 bleibt
in JGB 244 der Ausblick auf gefährliche Ausnahme-Deutsche, die mindestens
nach der kontinentalen, wenn nicht gar nach der globalen Hegemonie greifen,
ganz im Hintergrund. Gleichwohl sind auch die Deutschen von JGB 244 nicht
einfach nur decadents, sondern behalten in ihrer wabernden Unbestimmtheit
Entwicklungspotential: „Der Deutsche selbst ist nicht, er wird, er »entwi-
ckelt sich4. »Entwicklung4 ist deshalb der eigentlich deutsche Fund und Wurf
im grossen Reich philosophischer Formeln — ein regierender Begriff, der, im
Bunde mit deutschem Bier und deutscher Musik, daran arbeitet, ganz Europa
zu verdeutschen.44 (185, 21-25) So ironisch das klingt - einschließlich des Sei-
tenhiebs auf das Entwicklungsdenken des Deutschen Idealismus mit all seinen
Ausläufern bis in N.s Gegenwart: Hinter dieser Ironie steckt doch auch eine
ernst gemeinte Hoffnung.
184, 2 f. Es gab eine Zeit, wo man gewohnt war, die Deutschen mit Auszeichnung
„tief“ zu nennen] Vgl. NL 1885, KSA 11, 42[3], 694, 8: „Man nennt die Deutschen
tief.“ (Dazu auch KGW IX 4, W I 5, 1, 1: „Die Deutschen sind tief.“) Richard
Wagner bemüht in seinem einschlägigen Aufsatz (vgl. NK 184, 25-27) zwar ex-
zessiv die Tiefen- und Innerlichkeitsmetaphorik (z. B. Wagner 1907, 10, 46 f.),
hält aber selbst die fortwährende Berufung „auf »deutsche Tiefe4, »deutschen
Ernst4, »deutsche Treue4“ oft für missbräuchlich (ebd., 10, 37). Vgl. z. B. auch
Nohl 1870, 8 u. NK KSA 1, 74, 1.
184, 5 vielleicht die „Schneidigkeit“ vermisst] „Schneidigkeit“ kommt bei N. nur
in JGB 244 vor (fehlt auch in der Vorarbeit KGW IX 4, W I 5, 32 u. 30), während
das Adjektiv „schneidig“ von 1871 an in Werken und Nachlass wiederholt mit
 
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