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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0704
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684 Jenseits von Gut und Böse

Härte und Schärfe assoziiert wird. Grimm 1854-1971,15,1280 definiert „Schnei-
digkeit“ als „entschlossenheit, mut, thatkraft“ und Meyer 1885-1892, 8, 800
weiß sie im Verein mit „Mut“ und „Bissigkeit“ nur Dachshunden zu attestieren.
Wie in anderen zeitgenössischen Quellen (z. B. Fontane o.J., 101 u. [Wehren-
pfennig] 1875, 324) ist bei N. „Schneidigkeit“ vor allem militärisch konnotiert:
Sie erscheint als die vom preußischen Offizier geforderte Tugend. Die Forde-
rung nach „Schneidigkeit“ statt nach „Tiefe“ indiziert die Borussianisierung
und Militarisierung der deutschen Gesellschaft.
184,16 „zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“] Goethe: Faust I, V. 1112.
184,18-20 Als ein Volk der ungeheuerlichsten Mischung und Zusammenrührung
von Rassen, vielleicht sogar mit einem Übergewicht des vor-arischen Elementes]
Vgl. NK 138, 25-28. Die Behauptung steht gegen zeitgenössische antisemitisch-
nationalistische Strömungen, die eine besondere rassische Reinheit der Deut-
schen zu erkennen und aufrechterhalten zu müssen wähnten. Zur Verankerung
der Vorstellung von den Deutschen als „Ferment-Rasse“ (NL 1885, KSA 11,
43[3], 703, 6) im zeitgenössischen Diskurs siehe Orsucci 1996, 346-348.
184, 20f. als „Volk der Mitte“ in jedem Verstände] Vgl. NL 1884, KSA 11,
26[399], 256, 6f. u. NL 1885, KSA 11, 43[3], 703, 5. Während sich unterschiedli-
che Ethnien der Weltgeschichte - beispielsweise die Chinesen, die Juden, die
Griechen - jeweils als „Volk der Mitte“ verstanden haben oder so verstanden
wurden, hat die Anwendung der Formel auf die Deutschen eine spezifisch poli-
tische Konnotation: Namentlich der N. über seinen Freund Overbeck wenigs-
tens mittelbar persönlich bekannte, preußische Vorzeige-Historiker und natio-
nalliberale Politiker Heinrich von Treitschke (1834-1896) benutzte den Aus-
druck in der Absicht, die Größe und Integrationsfähigkeit Deutschlands zu
illustrieren: „Wie die Deutschen in ihrem Glauben das Volk der Mitte, das einzi-
ge wahrhaft paritätische große Culturvolk Europa’s sind, so versucht auch der
deutsche Staat eine Mannigfaltigkeit von Culturzwecken zu erreichen, die nach
der Meinung der Welt einander ausschließen.“ (Treitschke 1871, 3, 439) Umso
größer fällt Treitschkes Lamento über die politische Großwetterlage nach dem
Dreißigjährigen Krieg aus: „Auf die Jahrhunderte der deutschen Weltherr-
schaftspläne folgte nunmehr eine Zeit des leidenden Weltbürgertums. Das Volk
der Mitte empfing die Befehle aller Welt.“ (Treitschke 1879a, 1, 22) Bei N., dem
Treitschkes politisch-historiographischer Nationalismus in späteren Jahren zu-
wider war (vgl. z. B. NK KSA 6, 358, 33-359, 3), wird mit der Evokation von
Treitschkes Lieblingswendung die Hoffnung auf eine weltgeschichtliche Rolle
der Deutschen als „Volk der Mitte“ ironisiert: Zentrifugalkraft statt Zentripetal-
kraft ist das, was die Deutschen als „Volk der Mitte“ bislang ausgemacht hat.
Treitschke wird in JGB 251, KSA 5, 192, 26 auch namentlich erwähnt.
 
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