Metadaten

Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0755
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Stellenkommentar JGB 257, KSA 5, S. 205 735

uns den Kampf um’s Dasein aufnöthigt, wirkt auch dahin, den bevorzugten
Classen ein stets wachsendes Uebergewicht zu verleihen, bis endlich eine völli-
ge Spaltung in eine höhere und niedere Race als Resultat dieser Differenzie-
rung hervortritt.“ (Ebd., 175) Für Hellwald war also das Kastenwesen nicht das
Produkt einer religiösen Verirrung, sondern nur der Ausdruck einer natürli-
chen Ordnung: „Der Adel zeichnet sich gemeiniglich nicht nur durch ein aner-
zogenes vornehmes Wesen, sondern auch durch angeborne, namentlich physi-
sche Vorzüge aus.“ (Ebd., 176) Die Sklaverei wiederum, der Hellwald das
nächste Kapitel widmete, war für ihn gleichfalls nur eine der „verschiedene[n]
Formen der Arbeitsleistung“ (ebd., 179), deren Institutionalisierung „der Besie-
gung im Kriege“ zu verdanken sei; „auch bei der Sclaverei [sei] stets ethnische
Verschiedenheit im Spiele“ (ebd.). „Im Alterthume war also die Sclaverei
eine wirthschaftliche Nothwendigkeit. Im Uebrigen ist es ganz un-
möglich sie aus der Welt zu schaffen, so lange diese von Menschen bewohnt
wird; die Form ändert sich, das Wesen bleibt.“ (Ebd., 180)
Bei einem Autor wie Hellwald konnte N. also seine frühe Intuition von
der Unerlässlichkeit der Sklaverei (vgl. NK 205, 4-8) historisch-ethnographisch
ebenso bestätigt finden wie das in die Vergangenheit hineingelesene Konzept
von Adel als charakterlicher, durch Habitualisierung erblich werdender Vor-
trefflichkeit. An die Seite der schwächeren, friedliebenden Völker, die im alten
Indien nach Hellwald von den Ariern überrannt worden sind, stellt JGB 257
„alte mürbe Culturen“ und schreibt damit das Dekadenz-Thema in seine Be-
trachtung ein: Manche Kulturen scheinen sich so zu erschöpfen, dass sie für
eine barbarische Vereinnahmung nachgerade reif werden. Historisch konkreti-
siert werden die in Frage stehenden Epochen und Kulturen jedoch mit keiner
Silbe. Die Provokationskraft von JGB 257 liegt nicht zuletzt in der Unbestimmt-
heit und Allgemeinheit des darin als historische Tatsachen Behaupteten, ohne
dass diese angeblichen Tatsachen mit Beispielen belegt würden. Der Provokati-
on dient ebenso die Evokation der „Barbaren“ als Repräsentanten „ungebroch-
ner Willenskräfte und Macht-Begierden“, die sich ja nicht darauf beschränkt,
die Eroberer als gewaltlüsterne, kulturlose Fremde zu diskreditieren (so nach
Hellwald in den überlieferten Zeugnissen der eroberten Völker), sondern in die-
sen „Barbaren“ das Versprechen einer kulturellen Erneuerung zur Verbesse-
rung des „Typus ,Mensch“4 verkörpert sieht.
Bekanntlich hat schon Tacitus in seiner Germania den verkommenen römi-
schen Zeitgenossen die barbarischen Germanen als Zerrspiegel entgegengehal-
ten und ihre Vitalität herausgestrichen (vgl. z. B. NK KSA 6,185,14-18). Für den
Interpreten stellt sich die Frage, ob JGB 257 mit der unverhohlen bekundeten
Sympathie für die lebenskräftigen Barbaren in der Vergangenheit auch eine
barbarische Option für die Kulturerneuerung in der Gegenwart insinuiert - sei
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften