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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0756
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736 Jenseits von Gut und Böse

es durch eine äußere, als vital-barbarisch empfundene Macht wie Russland
(vgl. z. B. NK 140, 2-11), sei es durch eine innere Barbarisierung etwa mittels
einer Philosophie, die die geltenden normativen Ordnungen untergräbt und
eine allgemeine Umwertung aller Werte propagiert. Indes lässt sich der Ansatz
in JGB 257 keineswegs auf ein Barbarisierungsbestreben reduzieren, ist die er-
klärte Zielvorgabe doch nicht die Vernichtung des Bestehenden, sondern die
kulturelle und menschliche Evolution zu einem höheren „Typus“.
Zur Rezeption der Barbaren-Passage in JGB 257 bei Alfred Döblin siehe
Spreng 2014, 93 f.
258.
N. sandte das Manuskript von JGB 258 wohl erst im Juli 1886 an seinen Verleger
Naumann, nachdem er bereits Korrekturbogen erhalten hatte (vgl. Röllin 2013,
59). Eine Vorarbeit in KGW IX 4, W I 3, 72, 18-28 lautet: „Corruption bei einer
herrschenden Kaste bedeutet etwas Anderes als bei einer dienenden ru unter-
würfigen''. zb ist überschwängl. Milde Abnahme der Willensenergie Corruption
bei der ersteren. Bei der zweiten ist das Zunehmen der Selbständigkeit Corrup-
tion zb. Eugen Dühring. Die Privilegirten der franz. Revol. sind ein Beispiel
von Corruption“. In der Druckfassung entfällt der Seitenhieb auf Dühring (vgl.
stattdessen NK 131,11-14); dafür wird das Beispiel mit der Französischen Revo-
lution breiter aufgefächert und noch um eine botanische Parallele bereichert
(vgl. NK 207, 3-8). Das Ziel von JGB 258 ist es, eine Definition von „Corruption“
als Unordnung, als „Anarchie“ der „Instinkte“ plausibel zu machen und
gleichzeitig zu demonstrieren, dass diese Anarchie je nach Lebensform etwas
sehr Unterschiedliches sei. Das Schema von der Instinkt-Anarchie als Korrupti-
on oder als decadence wandte N. an anderer Stelle auch auf Sokrates und des-
sen Zeitgenossen an (vgl. GT Versuch einer Selbstkritik 1, KSA 1, 12, 26 f. sowie
NK KSA 6, 69, 13; NK KSA 6, 69, 21 f. u. NK KSA 6, 71, 11-18).
Freilich führt JGB 258 gar keine verschiedenen menschlichen Beispiele an,
an denen sich zeigen könnte, dass Korruption als Instinktanarchie „je nach
dem Lebensgebilde, an dem sie sich zeigt, etwas Grundverschiedenes“ (206,
14 f.) sei, sondern fokussiert einzig den Niedergang des Adels, der gegen seine
eigentlichen Interessen zu Beginn der von N. ja ohnehin sehr negativ beurteil-
ten Französischen Revolution (vgl. z. B. NK 56, 7-18 u. NK 67, 22-26) mit den
bürgerlichen Revolutionären gemeinsame Sache gemacht habe (N. dachte viel-
leicht an Figuren wie Marie-Joseph-Paul-Yves-Roch-Gilbert du Motier, Marquis
de La Fayette oder Honore Gabriel Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau).
Diese Hinwendung zur Revolution erscheint indes nur als letzter Akt einer
schon jahrhundertelangen, negativen Entwicklung, nämlich der Entmachtung
 
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