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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0757
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Stellenkommentar JGB 258, KSA 5, S. 205-206 737

der Aristokratie zugunsten des absolutistischen Königtums. JGB 258 belässt es
allerdings nicht bei diesem historischen Befund, sondern leitet Normatives da-
raus ab - dass nämlich Aristokratie sich als „Sinn“ (206, 27) einer Gesell-
schaft zu fühlen und andere Menschen ihren Interessen zu opfern habe. Die
Frage ist, ob daraus folgt, dass N. selbst die aristokratische Herrschaft für die
einzig angeratene und wünschenswerte Herrschaftsform hält, oder ob er hier
vielmehr nur im Medium fingierter Rollenrede über das Selbstverständnis
spricht, das einer bestimmten Schicht angemessen wäre, während andere
Schichten durchaus kontradiktorische Selbstverständnisse ausprägen dürften
(vgl. NK 206, 24-207, 3). Siehe auch Müller-Lauter 1999b, 159 f., Fn. 75.
206, 24-207, 3 Das Wesentliche an einer guten und gesunden Aristokratie ist
aber, dass sie sich nicht als Funktion (sei es des Königthums, sei es des Ge-
meinwesens), sondern als dessen Sinn und höchste Rechtfertigung fühlt, — dass
sie deshalb mit gutem Gewissen das Opfer einer Unzahl Menschen hinnimmt,
welche um ihretwillen zu unvollständigen Menschen, zu Sklaven, zu Werk-
zeugen herabgedrückt und vermindert werden müssen. Ihr Grundglaube muss
eben sein, dass die Gesellschaft nicht um der Gesellschaft willen dasein dürfe,
sondern nur als Unterbau und Gerüst, an dem sich eine ausgesuchte Art Wesen
zu ihrer höheren Aufgabe und überhaupt zu einem höheren Sein emporzuheben
vermag] Diese Passage, die Aristokratie nicht als Funktion, sondern als Zweck
einer Gesellschaft zu deklarieren scheint, ist sichtlich auf eine Schockwirkung
berechnet, widerspricht sie doch allen landläufigen Selbstrechtfertigungsstra-
tegien des Adels im 19. Jahrhundert, der sich bemühte, seine Existenz aus sei-
ner gesamtgesellschaftlichen Nützlichkeit zu legitimieren. Freilich spricht JGB
258 nicht über ein gesamtgesellschaftliches Ideal, sondern nur davon, wie eine
bestimmte soziale Gruppe, eben die Aristokratie, sich verstehen sollte, um ih-
ren eigentlichen Instinkten treu zu bleiben. Zu Beginn von JGB 257 wurde be-
hauptet, dass die „Erhöhung des Typus ,Mensch“4 jedes Mal „einer aristokrati-
schen Gesellschaft“ geschuldet sei (205, 4 f.). Dies wiederum impliziert, dass
die Aristokratie im Blick auf das Menschheitsschicksal, also in geschichtphilo-
sophischer Absicht, kein Zweck an sich wäre, sondern ein bloßes Mittel zur
Weiterentwicklung des Humanen. Diese kann offensichtlich nur erreicht wer-
den, wenn sich die Aristokraten der Illusion ihrer Selbstzweckhaftigkeit hinge-
ben - wie andere gesellschaftliche Gruppen auch. Besagt der Subtext, dass
hier eine agonale Gesellschaft visioniert wird, in der jeder, womöglich jede
Schicht von ihrer eigenen Selbstzweckhaftigkeit überzeugt sein soll und damit
in unentwegten Wettstreit mit anderen Schichten eintritt - entgegen der vor-
herrschenden Tendenz zur sozialen Pazifizierung?
Eugen Dühring hat gerade die ausbeuterischen Interessen für den Nieder-
gang des Adels verantwortlich gemacht: „Jede Aristokratie trägt die Corruption
 
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