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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0759
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Stellenkommentar JGB 258, KSA 5, S. 207 739

den anderen Stamm innig an, bis sie Zusammentreffen und durch fortschrei-
tenden Druck ihrer Enden gegen einander, wobei die Rinde zerstört wird, voll-
kommen in einander wachsen. Lange erhalten sich beide Bäume in üppiger
Kraft neben einander, ihre verschieden gefärbten, abweichend belaubten Kro-
nen durch einander flechtend, daß Niemand sie einzeln mehr unterscheiden
kann; endlich erliegt der umklammerte Stamm, durch den Druck der keiner
Erweiterung mehr fähigen Arme aller Saftcirculation beraubt, dem furchtba-
ren, als gebrechlicher Freund an ihn herangeschlichenen Feinde; seine Krone
wird welk, ein /240/ Zweig stirbt nach dem anderen ab, und der Mörder -
schlinger setzt die seinigen an deren Stelle, bis der letzte Rest des Umhals-
ten herabgefallen ist. So stehen sie nun da, der Lebendige auf den Todten sich
stützend und ihn noch immer in seine Arme schließend; ein rührendes Bild,
so lange man nicht weiß, daß es eben die gleisnerische Freundschaft des
Ueberlebenden gewesen ist, welche den geliebten Todten in seinen Armen er-
drückte, um seiner Kräfte sich desto ungestörter zu bedienen. [...] Kein anderes
vegetabilisches Phänomen hat einen tieferen Eindruck auf mich gemacht; mei-
ne Phantasie erblickte in diesen pflanzlichen Ungeheuern hingerichtete Urhe-
ber verbrecherischer Thaten, und wurde unwillkürlich auf eine Vergleichung
mit menschlichen Zuständen angewiesen. Wer kann bestimmen, zu welchen
ganz anderen Schritten das oft und laut gerühmte Rechtsgefühl unserer Nation
sie getrieben haben würde, wenn die Natur auch in den deutschen Hainen so
redende Zeugen der falschen Liebe und Freundschaft uns vorstellte; wenn
auch an unseren Eichen ein Cipo matador sich emporwände, und vor unseren
Augen ihre Krone langsam entlaubte. Wahrlich, man darf sich über die Hinter-
list und Tücke der brasilianischen Urbevölkerung nicht wundern, wenn man
solche Vorbilder /241/ der versteckten Selbstsucht zu Tausenden in ihren Wäl-
dern herumstehen sieht.“ (Burmeister 1855, 2, 238-241) Eine ganz ähnliche
Schilderung gab Burmeister auch in seiner Reise nach Brasilien, angereichert
noch um weitere melancholische Überlegungen (Burmeister 1853, 147-149).
Zugunsten der These, dass der Erwähnung von Sipo Matador in JGB 258
der Bericht von Burmeister zugrunde liegt, ließe sich der Umstand anführen,
dass N. Burmeisters Grundriss der Naturgeschichte bereits aus dem Naturkun-
deunterricht am Naumburger Domgymnasium kannte (Brobjer 1999c, 322) und
er später aus Schulpforta im April/Juni 1860 seine Mutter um die Zusendung
dieses Bandes (KSB 1/KGB 1/1, Nr. 145, S. 105, Z. 9) bat, der freilich - in N.s
Bibliothek ist das Buch nicht erhalten - Sipo Matador nicht erwähnt (Burmeis-
ter 1845). Überdies hat Burmeisters Schilderung seiner Urwalderfahrung aus
erster Hand spätere Botantiker zu ihren bis in die Wortwahl gleichlautenden
Beschreibungen angeregt, oft ohne die Quelle zu nennen (Zimmermann 1856,
3/2, 54-56; Wagner 1857, 385 f.; Kutzner 1859, 2, 452; Kabsch 1870, 295).
 
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