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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0760
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740 Jenseits von Gut und Böse

Gegen die These, N. habe für JGB 258 seine Information aus Burmeister
(oder aus einem seiner Adepten) bezogen, spricht weniger der Umstand, dass
er Sipo Matador fälschlich auf Java ansiedelt - nach allen konsultierten Quel-
len ist Brasilien die Heimat der Pflanze -, sondern die Schreibweise: Burmeis-
ter und seine Nachfolger schrieben konsequent „Cipo“ statt „Sipo“. Der „Sipo“-
Schreibweise bediente sich wiederum der englische Biologe und Darwinist
Henry Walter Bates (1825-1892), den Ure 2013 als N.s Quelle reklamiert. Tat-
sächlich war Bates’ Bericht von seiner Amazonas-Expedition auch in deutscher
Übersetzung ein fulminanter Erfolg und wurde oft zitiert: „In diesen tropischen
Wäldern scheint es, als ob jede Pflanze und jeder Baum seinen Nachbar zu
überholen suchte; Alles strebt aufwärts, dem Licht und der Luft zu, — Ast,
Blatt und Stamm ohne Rücksicht auf seine Nachbarn. Schmarotzerpflanzen
hängen sich fest an andere und gebrauchen sie mit sorgloser Gleichgültigkeit
als Mittel zu ihrem eigenen Fortkommen. Leben und Lebenlassen ist sichtlich
nicht der Grundsatz, der in diesen Wildnissen gilt. Es giebt hier eine Art
Schmarotzerbaum, der in der Nähe von Para sehr häufig ist und der diesen
Grundzug in einer besonders auffallenden Weise darstellt. Er wird Sipo Mata-
dor oder Mörder-Liana genannt und gehört zur Ordnung der Feigenbäume. [...]
Der Fuss des Stammes war kaum im Stande, die Last des obern Wuchses zu
tragen; er muss sich daher an einen Baum einer andern Species stützen. Hierin
unterscheidet er sich nicht wesentlich von andern kletternden Bäumen und
Pflanzen, aber der Weg, den der Matador einschlägt, ist eigenthümlich und
macht sicher einen unangenehmen Eindruck. Er wächst dicht neben dem Bau-
me, an den er sich anklammern will, aus dem Boden, und das Holz seines
Stammes wächst, indem es sich an einer Seite um den Stamm seines Trägers
anlegt, wie Gips um eine Form. Dann streckt er zu beiden Seiten einen armähn-
lichen Ast aus, der schnell länger wird und aussieht, als ob ein Strom von Saft
herausflösse, der sich sogleich verhärtet. Dieser hängt sich fest an den Stamm
des Opfers und an der andern Seite treffen die beiden Arme zusammen und
schlingen sich einer um den andern. Wie der Baum wächst, so wachsen auch
diese Arme in ziemlich regelmässigen Zwischenräumen hervor, bis endlich das
Opfer von einer Anzahl unbiegsamer Ringe eng zusammengeschnürt ist. Diese
Ringe werden allmählig grösser, wenn der Mörder blüht, der seine Blätterkrone
mit der seines Nachbars vermengt gen Himmel /30/ streckt, und im Laufe der
Zeit tödten sie diesen, indem sie den Fluss seines Saftes hemmen. Der selbst-
süchtige Schmarotzer bleibt dann allein übrig, in seinen Armen den leblosen
und verwitterten Körper des Opfers umschlungen haltend, das ihm zu seinem
Wüchse behülflich war. Sein Zweck ist erreicht, — er hat geblüht, Früchte ge-
tragen und seine Art fortgepflanzt und vermehrt; und nun, wenn der todte
Stamm verwest, naht auch sein Ende; seine Stütze ist dahin, auch er muss
 
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