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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0761
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Stellenkommentar JGB 258, KSA 5, S. 207 741

fallen. / Der Mörder Sipo zeigt nur in einer deutlichem Weise, als sonst der
Fall ist, den Kampf, welcher nothwendig zwischen den vegetabilischen Formen
in diesen dichten Wäldern stattfinden muss, wo Individuen mit Individuen und
Species mit Species ringen, wo alle streben, Licht und Luft zu erreichen, um
ihre Blätter zu entfalten und ihre Befruchtungsorgane zu vervollkommnen. Alle
Species bringen in ihren glücklichen Kämpfen vielen ihrer Nachbarn und Stüt-
zen Schaden und Verderben, aber bei andern ist der Prozess nicht so deutlich
in die Augen springend wie bei dem Matador. [...] Der Wetteifer zwischen orga-
nischen Wesen ist deutlich erwiesen in Darwins ,Origin of species4, und er
muss bei dem Studium dieses Gegenstandes immer im Auge behalten werden;
er besteht überall, in jeder Zone, in der Thier- und Pflanzenwelt, am stärksten
aber ohne Zweifel in den tropischen Ländern, und wenn er in den Wäldern an
den Pflanzen zum Vorschein kommt, so ist dies keine ausnahmsweise Erschei-
nung, sondern tritt vielmehr hier nur sichtbarer hervor, vielleicht weil haupt-
sächlich die vegetativen Organe — Wurzel, Stamm und Blatt — in Thätigkeit
sind, deren Wachsthum ebenfalls durch das intensive Licht, Wärme und
Feuchtigkeit getrieben werden. Derselbe Wetteifer besteht auch in gemässigten
Zonen, aber verborgen unter dem äussern Anschein der Ruhe, der hier der
ganzen Vegetation eigen ist, und afficirt in diesem Falle vielleicht mehr die
reproductiven als die vegetativen Organe, namentlich die Blüthen, welche al-
lerdings in den Waldungen der höheren Breitegrade eine weit allgemeinere
Zierde sind, als in tropischen Ländern.“ (Bates 1866, 29 f.)
Sipo Matador diente Bates also als drastische Illustration für die darwinisti-
sche Vorstellung vom Kampf ums Dasein angesichts knapper Ressourcen, qua-
si als Inbegriff dessen, was die Natur eigentlich ausmacht, während die parasi-
tische Pflanze in Burmeisters Reflexionen eher als Abirrung von einer sonst
equilibrierten Naturordnung erscheint (Bates 1866, 29: „Ein deutscher Reisen-
der, Burmeister, sagt, die Betrachtung eines brasilischen Waldes mache auf
ihn einen peinlichen Eindruck, weil die Vegetation eine rastlose Selbstsucht,
Wetteifer und Schlauheit entfalte. Er meint die Stille, der Ernst und die Ruhe
einer europäischen Waldlandschaft seien angenehmer, und findet in ihnen
eine Ursache des höheren moralischen Charakters der europäischen Natio-
nen.“). So sehr N. die darwinistische Prämisse einer natürlichen Ressourcen-
knappheit ablehnte (vgl. z. B. NK KSA 6, 120, 25), so nahe lag ihm doch die
Vorstellung von der Natur als unstillbarem Kampfgeschehen. Gerade die tropi-
sche Üppigkeit, die Bates so anschaulich ausmalt, wird bei N. zu einer Leitme-
taphorik wünschenswerten echten, unstillbaren und gewaltsamen Wachstums
(vgl. NK 117, 17-29). In JGB 262, KSA 5, 216, 2-11 baute er diese Leitmetaphorik
zu einem anthropologischen Entwicklungsschema aus. Der Umstand, dass sich
N. in der Lokalisierung von Sipo Matador im Kontinent irrte, spricht jedoch
 
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