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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Mitarb.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0819
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Stellenkommentar JGB 291, KSA 5, S. 234-235 799

unheimlich, hat das gute Gewissen erfunden, um seine Seele einmal als ein-
fach zu geniessen; und die ganze Moral ist eine beherzte lange Fälschung, ver-
möge deren überhaupt ein Genuss im Anblick der Seele möglich wird. Unter die-
sem Gesichtspunkte gehört vielleicht viel Mehr in den Begriff „Kunst“ hinein, als
man gemeinhin glaubt.] Überlegungen zur anthropologischen Differenz, die
den Menschen vor den (anderen) Tieren auszeichnet, sind namentlich in JGB
62 eingegangen; ins thematische Umfeld gehören NL 1884, KSA 11, 25[428], 125
(besprochen in NK 81, 20-23), 25[429], 125 u. 25[459], 135. Eine unmittelbare
Vorarbeit zu JGB 291 stellt NL 1884, KSA 11, 26[168], 4-7 dar: „Der Mensch, ein
vielfaches, verlogenes, künstliches und undurchsichtiges Thier, allen anderen
Thieren durch Klugheit und List unheimlich und furchteinflößend - gebärdet
sich oberflächlich, sobald er moralisirt.“ Eine in KGW VII 4/2, 155 mitgeteilte
„Vorstufe“ erläutert nach der Feststellung, der Mensch sei den anderen Tieren
„unheimlich und furchteinflößend“, er habe „die Moral erfunden, um sich den
Genuß der Vereinfachung zu schaffen rals einfach zu empfinden'' / gebärdet
sich oberflächlich, sobald er rüber sich seiber'1 moralisirt“. Diese Fassung ist
dem späteren Drucktext gedanklich näher, während 26 [168] nur behauptet, die
Moralisierung sei ein oberflächliches Sich-Gebärden des Menschen. In dieser
Aufzeichnung liegt die Betonung auf dem Widerspruch zwischen der Listigkeit
und Verlogenheit des Menschen einerseits und seinem Moralisieren anderer-
seits, womit er unter dem Niveau seiner tiefen Listigkeit bleibt.
Die Fassung von KGW VII 4/2, 155 stellt demgegenüber die Erfindung der
Moral - die sich nicht, wie viele von N.s Zeitgenossen im Banne des Darwinis-
mus behauptet haben, einem natürlichen Bedürfnis, einer natürlichen Ent-
wicklung verdanke, weil sie etwa für das Überleben der Spezies gut wäre - als
große „Vereinfachung“ dar, die wiederum Genuss verschafft. JGB 291 gewichtet
schließlich um, indem jetzt der positive Effekt der Erfindung von Moral und
„gutem Gewissen“ herausgestellt wird, die dem „vielfachen“ Tier namens
Mensch eine scheinbare Einfachheit in der Selbstwahrnehmung verschafft und
ihm damit über die eigenen Abgründe hinweghilft. Man könnte in JGB 291 auch
eine erneute Travestie der evolutionstheoretischen Überzeugung von der Dien-
lichkeit der Moral im Überlebenskampf der Gattung zu finden geneigt sein:
Moral als „Kunst“ der Vereinfachung - als Kunst, sich über sich selbst hinweg-
zutrösten. Bemerkenswert ist aber, dass JGB 291 im Unterschied zum damali-
gen naturwissenschaftlichen Mainstream „Moral“ und „gutes Gewissen“ gera-
de als Spezifika des Tieres namens Mensch reklamiert. Beispielsweise Hellwald
1876-1877a, 1, 42 wollte demgegenüber festgehalten wissen: „Auch das Entste-
hen des moralischen Gefühls oder des Gewissens lässt sich bis in die Thier-
welt verfolgen. Gleich dieser schöpft der Mensch den grössten Theil der Kraft
und Energie zu seinen Handlungen aus seinen mächtig entwickelten socialen
 
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