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Sommer, Andreas Urs; Nietzsche, Friedrich; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Contr.]
Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (Band 5,1): Kommentar zu Nietzsches "Jenseits von Gut und Böse" — Berlin, Boston: De Gruyter, 2016

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https://doi.org/10.11588/diglit.69929#0822
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802 Jenseits von Gut und Böse

rwenrT Ein solcher Mann, dem die Schwächenden Leidenden Bedrängten raller
Arf gerne zufallen u. ru von Naturn zugehören: - eines solchen Mannes rwenn
ein solcher Mann Mitleid haf rnun dies-1 Mitleiden hat Werth. Aber was liegt
am Mitleiden der, rwelche leiden! am modernen'' Leidenden!“
Die Eingangsfrage: „Egoismus?“ entfällt in der Druckfassung vollständig
und damit der ursprünglich intendierte Nachweis, dass der scheinbare „Egois-
mus“ des Willensstärken mit einer spezifischen Form des Mitleidens, nämlich
der Hilfsbereitschaft aus Stärke keineswegs unvereinbar sei. Stattdessen
kommt in JGB 293 eine zweite Hälfte hinzu, für die sich in N.s Nachlass keine
Vorlage finden lässt. Sie bringt das aus der in N.s Texten immer wieder begeg-
nenden Polemik gegen Schopenhauer und die Kultur der decadence sattsam
bekannte Thema der angeblich gegenwartstypischen, krankhaften Überemp-
findlichkeit, der Mitleidsreligion und der „Unmännlichkeit“ (236, 11) zur
Sprache, um dagegen eine »„fröhliche Wissenschaft“4 (236, 16) als Heilmittel
zu empfehlen. Diese zweite Hälfte lebt vom Kontrast zum zupackend-willens-
freudigen „Mann“ (235, 24) der ersten Hälfte. Zugleich verlagert sie auch den
Akzent vom spezifischen Mitleid dieses Mannes als einem Herrenmitleid, das
den, der es hat, nicht in Mitleidenschaft zieht, ihn nicht mit leiden lässt, und
zwar hin zur gegenwärtigen Mitleidsreligionsmisere und ihrer Remedur, dem
„Amulet ,gai saber4“ (236, 15).
236, 5-10 Es giebt heute fast überall in Europa eine krankhafte Empfindlichkeit
und Reizbarkeit für Schmerz, insgleichen eine widrige Unenthaltsamkeit in der
Klage, eine Verzärtlichung, welche sich mit Religion und philosophischem Krims-
krams zu etwas Höherem aufputzen möchte, — es giebt einen förmlichen Cultus
des Leidens.] Die „religion de la souffrance“ war N. von Paul Bourget her geläu-
fig, vgl. NK 36, 31-34. Natürlich steht Schopenhauers Mitleidsethik (zu dieser
Stelle siehe Goedert 1988, 114) im Hintergrund, während N. sich in Guyaus
Esquisse Stellen markiert hat, die Schmerz- und Gewissensüberempfindlichkeit
höher entwickelter Menschen herausstellen (Guyau 1909, 302). Die Wendung
„Cultus des Leidens“ gebraucht schon Julian Schmidt in seinem Porträt von
Thomas Carlyle: „Das Leben ist unendlich ernst. In allen göttlichen Gestalten
liegt etwas von erhabener Traurigkeit; der Sohn des Menschen trägt eine Dor-
nenkrone, die höchste Religion heißt Cultus des Leidens. Wer nach Glück jagt,
geht in der [sic] Irre“ (Schmidt 1878, 174).
236, 15 das gute Amulet „gai saber“] Vgl. NK 212, 17-23. Ein Amulett ist ein
„Schutz- oder Verwahrungsmittel gegen Zauberei, Krankheiten und andre
Übel, welches am Hals oder an andern Teilen des Körpers getragen wird“ (Mey-
er 1885-1892, 1, 517), dient also magischen Zwecken. Eine „»fröhliche Wissen-
schaft4“ (236,16) scheint sich solcher Mittel bedienen zu müssen, wenn sie sich
die alteuropäische Leidens- und Mitleidens-tristesse vom Hals schaffen will.
 
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