550 Zur Genealogie der Moral
je dirais: Vive la Destruction! vive l'Expiation! vive le Chätiment! Vive la
Mort!". - „Ich sage: Es lebe die Revolution! wie ich sagen würde: Es lebe die
Zerstörung! Es lebe die Züchtigung! Es lebe die Strafe! Es lebe der Tod!"). Die
italienische Fassung findet sich im 19. Jahrhundert zwar auch, aber eher selten;
am markantesten vielleicht in den Lebenserinnerungen von Levin Schücking,
bei dem es aber nicht um die Frühneuzeit oder das Spätmittelalter geht, son-
dern um die Hoffnungen, die Papst Pius IX. unter Zeitgenossen auslöste: „dies
heftige, fast wahnsinnige Evviva Pio nono war ein ebenso heftiges: Vorwärts,
vorwärts, vorwärts, heiliger Mann - oder: Evviva la morte." (Schücking 1886,
2, 192) N. hatte Levin Schücking 1883 in Rom kennengelernt - seine Tochter
Theo Schücking, die Elisabeth N. ihrem Bruder in ihrem Brief von Mitte März
1885 (KGB III 4, Nr. 272, S. 12, Z. 15-22) als mögliche Gattin empfahl, hat berich-
tet, N. habe sich zu ihrem Vater „sympathisch hingezogen" gefühlt „und be-
gegnete dem viel älteren Manne mit einer Feinheit, ich möchte sagen Anmut
der Form, die etwas unbeschreiblich Gewinnendes hatte" (ediert in Gilman
1987, 459, zu beider Renaissance-Vorliebe ebd., 460). Freilich gibt es keinen
Beleg dafür, dass N. Schückings Lebenserinnerungen gekannt hat, und die dor-
tige „Evviva la morte"-Stelle hat keinen Bezug zur Epoche, in die GM III 21 den
Ausruf versetzt. Milner 2013, 115 f. schlägt deswegen eine andere Quelle vor,
nämlich Emile Gebharts Les origines de la Renaissance en Italie, die N. nach-
weislich studiert hat. Dort heißt es über die große Pest in Florenz, von der
Machiavelli berichtet: „Machiavel nous a laisse une image plus vraie et plus
saisissante des passions de l'amour, telles que l'ltalie les a connues alors, oü
le delire des sens fut d'autant plus brülant que l'emotion du coeur etait plus
vive. A Florence, en pleine peste, dans Santa Croce, oü il s'est refugie pour /
251/ echapper aux fossoyeurs qui dansent et chantent vive la mort! il voit, cou-
chee sur le pave, dans ses draperies de deuil, les cheveux epars, une belle
jeune femme qui gemit et se frappe la poitrine; c'est son amant qu'elle pleure,
,transfiguree par une passion sans mesure'." (Gebhart 1879, 250 f.; S. 251 in N.s
Exemplar mit Eselsohr. „Machiavelli hat uns ein wahrhaftigeres und eindringli-
cheres Bild von den Leidenschaften der Liebe hinterlassen, wie Italien sie da-
mals kannte, wo das Delirium der Sinne umso mehr brannte, je intensiver die
Emotion des Herzens war. In Florenz, zur Zeit der Pest, in Santa Croce, wo er
Zuflucht sucht, um den Totengräbern zu entkommen, die tanzen und singen
,es lebe der Tod!', sieht er, in ihren Trauergewändern auf dem Boden liegend,
die Haare aufgelöst, eine schöne junge Frau, die stöhnt und sich auf ihre Brust
schlägt; sie weint um ihren Liebhaber, verwandelt von einer grenzenlosen Lei-
denschaft'.") Milner nimmt an, N. habe in GM III 21 das vermeintliche Machia-
velli-Zitat ins Italienienische zurückübersetzt. Freilich bleiben auch andere
Quellen möglich, die Milner nicht benennt, etwa die Oper La Pellegrina von
je dirais: Vive la Destruction! vive l'Expiation! vive le Chätiment! Vive la
Mort!". - „Ich sage: Es lebe die Revolution! wie ich sagen würde: Es lebe die
Zerstörung! Es lebe die Züchtigung! Es lebe die Strafe! Es lebe der Tod!"). Die
italienische Fassung findet sich im 19. Jahrhundert zwar auch, aber eher selten;
am markantesten vielleicht in den Lebenserinnerungen von Levin Schücking,
bei dem es aber nicht um die Frühneuzeit oder das Spätmittelalter geht, son-
dern um die Hoffnungen, die Papst Pius IX. unter Zeitgenossen auslöste: „dies
heftige, fast wahnsinnige Evviva Pio nono war ein ebenso heftiges: Vorwärts,
vorwärts, vorwärts, heiliger Mann - oder: Evviva la morte." (Schücking 1886,
2, 192) N. hatte Levin Schücking 1883 in Rom kennengelernt - seine Tochter
Theo Schücking, die Elisabeth N. ihrem Bruder in ihrem Brief von Mitte März
1885 (KGB III 4, Nr. 272, S. 12, Z. 15-22) als mögliche Gattin empfahl, hat berich-
tet, N. habe sich zu ihrem Vater „sympathisch hingezogen" gefühlt „und be-
gegnete dem viel älteren Manne mit einer Feinheit, ich möchte sagen Anmut
der Form, die etwas unbeschreiblich Gewinnendes hatte" (ediert in Gilman
1987, 459, zu beider Renaissance-Vorliebe ebd., 460). Freilich gibt es keinen
Beleg dafür, dass N. Schückings Lebenserinnerungen gekannt hat, und die dor-
tige „Evviva la morte"-Stelle hat keinen Bezug zur Epoche, in die GM III 21 den
Ausruf versetzt. Milner 2013, 115 f. schlägt deswegen eine andere Quelle vor,
nämlich Emile Gebharts Les origines de la Renaissance en Italie, die N. nach-
weislich studiert hat. Dort heißt es über die große Pest in Florenz, von der
Machiavelli berichtet: „Machiavel nous a laisse une image plus vraie et plus
saisissante des passions de l'amour, telles que l'ltalie les a connues alors, oü
le delire des sens fut d'autant plus brülant que l'emotion du coeur etait plus
vive. A Florence, en pleine peste, dans Santa Croce, oü il s'est refugie pour /
251/ echapper aux fossoyeurs qui dansent et chantent vive la mort! il voit, cou-
chee sur le pave, dans ses draperies de deuil, les cheveux epars, une belle
jeune femme qui gemit et se frappe la poitrine; c'est son amant qu'elle pleure,
,transfiguree par une passion sans mesure'." (Gebhart 1879, 250 f.; S. 251 in N.s
Exemplar mit Eselsohr. „Machiavelli hat uns ein wahrhaftigeres und eindringli-
cheres Bild von den Leidenschaften der Liebe hinterlassen, wie Italien sie da-
mals kannte, wo das Delirium der Sinne umso mehr brannte, je intensiver die
Emotion des Herzens war. In Florenz, zur Zeit der Pest, in Santa Croce, wo er
Zuflucht sucht, um den Totengräbern zu entkommen, die tanzen und singen
,es lebe der Tod!', sieht er, in ihren Trauergewändern auf dem Boden liegend,
die Haare aufgelöst, eine schöne junge Frau, die stöhnt und sich auf ihre Brust
schlägt; sie weint um ihren Liebhaber, verwandelt von einer grenzenlosen Lei-
denschaft'.") Milner nimmt an, N. habe in GM III 21 das vermeintliche Machia-
velli-Zitat ins Italienienische zurückübersetzt. Freilich bleiben auch andere
Quellen möglich, die Milner nicht benennt, etwa die Oper La Pellegrina von