Metadaten

Ernst, Paul; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1928, 12. Abhandlung): Wurzeln der Medizin: Festrede ... am 10. Juni 1928 — Berlin, Leipzig, 1928

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.43554#0006
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
6

Paul ErnsT:

krates neben dem Gegensatzprinzip in der Therapie auch das Ähnlich-
keitsprinzip billigte. Übrigens kennt Galen nicht die Ausschließlichkeit
des Doktrinärs, vielmehr die Duldsamkeit des Eklektikers, denn er schreibt
jene 4 Qualitäten (warm, kalt, feucht, trocken), auch den Geweben zu
und nähert sich mit Entlehnung der Qualitäten schlaff und straff den
Systematikern und latrophysikern, die wir noch kennen lernen werden.
Gerade diese Anpassungsfähigkeit verlieh der Lehre das lange Leben
von 13 Jahrhunderten. Diese Langlebigkeit verdankt die Lehre aber auch
dem starken Glauben an die Naturheilkraft des Organismus, der von
Hippokrates herstammt.
Der Bann des Galen wurde erst durch Paracelsus gebrochen. Eine
der merkwürdigsten Erscheinungen, ein selbständiger, eigenwilliger Kopf,
den die Geistesgeschichte ebensosehr in Anspruch nimmt wie die Natur-
geschichte, der uns durch Kolbenheyer, Gundolf, Sigerist (in der neuen
Ausgabe seiner Defensiones) wieder näher gebracht wurde, der ganz
im Mittelalter wurzelnd seinen Blick in die Zukunft richtet, ein Herold
und Seher der neuen Zeit, der medizinische Luther. Er will nichts wissen
von den 4 Elementen, die erdichtet seien, nichts von Mischungsänderung,
die den Krankheiten zugrunde lägen; die Krankheit sei ein von der
Norm abweichender Lebensvorgang und die Krasis von sekundärer Be-
deutung. Doch ist er nicht frei von Widersprüchen, hält an 3, freilich
mehr symbolisch als chemisch gedachten Grundstoffen fest, von denen
ihm Sulfur das Brennbare, Merkur alles Flüssige und Flüchtige, Sal das
Feste, als Asche Zurückbleibende bedeuten. Er huldigt dem Satz:
similia similibus, den später die Homöopathie für sich in Anspruch
nahm. Über der richtigen Mischung oder der falschen Krasis der Grund-
stoffe wacht geheimnisvoll das regelnde Lebensprinzip, der Archäus.
Unbrauchbares und Unreines, das aus der Nahrung stammt, wird aus-
gefällt und niedergeschlagen, als Leim, Sand und Stein wie der Weinstein
(Tartarus) im Weinfaß, somit werden Harnsteine und Gicht als tar-
tarische Krankheiten bezeichnet. So bleibt von der Humoralpathologie
doch die Zusammensetzung aus Grundstoffen, Mischung und
Entmischung, Krasis und Dyskrasia. Nur der Erfahrung vertrauend
und ganz auf sich gestellt, verachtet er Bücher und Gelehrsamkeit und
zünftiges Wissen: „Alterius non sit, qui sui esse potest.“ Er führt das
unstete Leben eines fried- und freudlosen Landfahrers: ..Die Engel-
ländischen humores sind nit Ungerisch, noch die Neapolitanischen Prew-
sisch, darumb mußtu dahin ziehen, da sie sind und je mehr du sie dahin
suchst und je mehr ihr erfährst, je größer dein Verstandt in deinem
Vatterlandt.“ In der Scheidekunst und Erzkenntnis schon vom Vater
unterrichtet, von Jugend auf tätig in klösterlichen Küchen und Labora-
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften