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Ernst, Paul; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1928, 12. Abhandlung): Wurzeln der Medizin: Festrede ... am 10. Juni 1928 — Berlin, Leipzig, 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.43554#0008
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Paul Ernst:

zu einer Physiologie des Kreislaufes gelegt. Die Aufmerksamkeit
wurde auf das Blut gelenkt. Von nun an herrschte das Blut über die
Säfte und verdrängte sie. Man erforschte die Zusammensetzung des
Blutes und entdeckte den Faserstoff bei der Gerinnung, in der John
Hunter den ersten Schritt des Blutes sah, um sich dem Organismus
nützlich zu machen. Aus geronnener Lymphe entstünden Gewebe und
Gefäße neu, entzündliches Gerinnungsprodukt bildete Narben, schlösse
Wunden, verkittete durchgeschnittene Nerven, heilte Knochenbrüche.
So lehrte John Hunter Ende des 18. Jahrhunderts. In Frankreich ver-
trat ein Menschenalter später Gabriel Andral die Humoralpathologie.
Im Blut ist zu wenig oder zu viel Faserstoff, danach neigt es wenig
oder stärker zur Gerinnung, auch Serum ist zu reichlich oder zu spärlich,
ebenso der Blutfarbstoff. Bei Infektionen werden übertragbare
giftige Stoffe durch Atmung oder Nahrung aufgenommen. Drüsen-
sekrete wie Galle können ins Blut treten (Gelbsucht). Die Ursachen der
Krankheiten sind im Blut zu suchen, die Veränderung der festen Teile,
der Organe, folgt nach. Also allgemeine Blutkrankheiten, nicht
lokale Organkrankheiten!
Im deutschen Sprachgebiet vertrat im 19. Jahrhundert Karl
Rokitansky die Humoralpathologie in Form der Krasenlehre.
Faserstoff und Eiweiß des Blutes sind plastische Stoffe, Blasteme
oder Plasma, sie dienen der Gewebsbildung, also den Heilungsvorgängen
und der Geschwulstbildung. An der falschen Zusammensetzung, ab-
normen Mischung des Blutes, an Krasis und Dyskrasie wird fest-
gehalten. Die Dyskrasie ist primär, die örtliche Erkrankung ist sekundär,
d. h. die Lokalisation der allgemeinen Krasis. Doch wird auch die Um-
kehrung, die Dyskrasie als Folge örtlicher Organveränderung zugelassen.
Diese letzten Ausläufer der Krasenlehre sind von Virchow in den 50iger
Jahren besiegt und von Rokitansky selbst aufgegeben worden.
Aber die Krasenlehre war ja nur das humorale Gegengewicht
zum einseitigen lokalistischen Organizismus der Solidarpathologie,
der die Allgemeinerscheinungen und die Konstitutionsanomalien nicht
erklärte. Und so blieb als Erbschaft der Krasenlehre die Konstitutions-
lehre, die die allgemeine Körper Verfassung erforscht, von der die be-
sondere Art der Reaktion abhängt. Konstitutionskrankheiten wären
also solche, die nicht lokalisiert werden können. Man denke an Zwerg-
und Riesenwuchs, Infantilismus, Kretinismus, an Fettsucht, Zucker-
krankheit, Krampfzustände, Gicht, Asthma, Steinbildung, Arterien-
verhärtung, Rheumatismus, frühzeitige Senilität. Aber obgleich die
Konstitutionslehre dem Lokalitätsgedanken widerstrebt, kommt der
anatomische Gedanke wie durch die Hintertüre in die Frage wieder
 
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