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Ernst, Paul; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1928, 12. Abhandlung): Wurzeln der Medizin: Festrede ... am 10. Juni 1928 — Berlin, Leipzig, 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.43554#0012
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12

Paul Ernst:

Tätigkeit des Herzens und die Elastizität der Gefäßwand. Der Ver-
dauung, Ernährung, Muskelkontraktion werden mechanische Momente
abgewonnen. Störung der mechanischen Vorgänge bringt die Krankheit,
Blutstockung, Hemmung, Stauung machen Entzündung. Die Reinigung
des Blutes von verdorbenen Stoffen geschieht in den Ausscheidungs-
organen durch Filtration, indem feine Kanäle dünne Stoffe durchtreten
lassen. Verschiedenheit der Se- und Exkrete beruht auf ungleicher
Weite der Kanäle und Poren. Damit kam die latrophysik einstweilen
zum Abschluß.
Nun schlägt die Solidarpathologie einen Seitenpfad ein. Durch das
Gewicht Albrecht v. Hallers treten Irritabilität (Reizbarkeit), Sen-
sibilität der Nerven und Kontraktilität der Muskeln in den Vordergrund
und werden zu den wichtigsten Kennzeichen des Lebens oder zu Auße-
rungsformen einer Lebenskraft, wie denn diese Neuropathologie
vom Vitalismus nie ganz zu trennen ist. Die Nerven sind nun das
Soliduni, auf das es ankommt, von ihnen werden alle Lebensvorgänge
ausgelöst. Ihre Änderung, verminderte Spannung, Abspannung bedingen
Krankheit. Alle Krankheiten sind Nervenkrankheiten. Der
Äther füllt die Nerven und führt den Muskelfasern Anregung zu, die ihren
Tonus erhält, zum Spasmus verstärkt oder bis zur Atonie herabsetzt.
Auch Fieberfrost und Entzündung gehen vom Nerven aus. Die Ent-
deckung der vorderen motorischen und hinteren sensiblen Rückenmarks-
wurzeln und des Reflexmechanismus leistete der Neuropathologie mäch-
tig Vorschub und diese prägt noch ihre Züge dem Handbuch der ratio-
nellen Pathologie von Jakob Henle auf, unserem Anatomen der 40er
Jahre. Seine Lehre von den Sympathien, Synergien und Antagonismen
sind von der Neuropathologie beherrscht.
Gleichsam als eine Erneuerung der Neuropathologie ist in unserer
Zeit eine Relationspathologie auf getreten, die sich gegen die Auto-
nomie und Reizbarkeit der Zelle richtet und lehrt, die Reizbarkeit werde
nur durch Nerven vermittelt, alle Reize greifen am Nervensystem an.
Im Mittelpunkt stehe immer das Nervensystem, die Rolle der Zelle sei
nur passiv und abhängig von dem durch die Nerven beherrschten Kreis-
lauf und seinen Störungen.
Die heutige Neurologie ehrt in Albrecht v. Haller ihren Ahnen
in anatomischer und physiologischer Richtung und sieht ihre Aufgabe
in einer biologischen Beherrschung und Durchdringung des Nerven-
systems und ist zwischen innerer Medizin mit ihren physikalisch-chemi-
schen Mitteln und der Psychiatrie mit ihren psychologischen Methoden
so erstarkt, daß sie eigene Lehrstühle begehrt.
 
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