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Ernst, Paul; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse [VerfasserIn] [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Mathematisch-Naturwissenschaftliche Klasse (1928, 12. Abhandlung): Wurzeln der Medizin: Festrede ... am 10. Juni 1928 — Berlin, Leipzig, 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.43554#0014
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Paul Ernst:

der Heilstoffe wird verglichen mit der psychischen Erregung des Appe-
tites und des Ekels. Die höchste Steigerung erfährt diese Richtung am
Anfang des 18. Jahrhunderts in Halle durch Georg Ernst Stahl, der
trotz iatrochemischer und -physischer Einflüsse die Herrschaft der be-
wußten unsterblichen Seele über normale und pathologische Lebens-
vorgänge verkündet, Ausfluß und Ausdruck einer religiös-frommen
Natur und Erziehung. Er weist auf Krankheiten nach Gemütsbewegungen
hin, auf die Bedeutung der Leidenschaften für das Wohlbefinden, auf das
Erbrechen durch psychische Eindrücke. Chemie und Anatomie gelten
ihm nichts. Die Seele allein hindert Zerfall, Zersetzung und Fäulnis im
Körper. Sie setzt bei der Entzündung die Bewegung des Blutes durch
schnellen Puls und Fieber in Gang und veranlaßt so die Heilung. Vor
dem Angriff der Schädlichkeit gerät die Seele in Unentschlossenheit,
bange Furcht, Abneigung, Verwirrung, Schwanken und wird unfähig
zur Wirkung. Der Heilplan geht darauf aus, die Seele zu unterstützen,
aufzurichten, aufzumuntern (Psychotherapie). Immer wieder beruft
sich Stahl auf die Schwierigkeit, ylie Lebenserscheinungen aus mechani-
schen und chemischen Grundlagen zu begreifen und betont die wunder-
bare Harmonie des Organismus im Gegensatz zum Mechanismus.
Mit Stahl erreicht der Animismus in der Medizin seinen höchsten Aus-
druck.
Die andere Richtung dachte sich die Lebensgeister als besonders
feine Substanzen, als dünne Flüssigkeit, die den Körper durchströme,
als ein Nervenfluiduni, wie verdünntes Wasser, als eine spirituöse Sub-
stanz oder als Äther, oder in Anlehnung an Descartes als feinen Wind
oder reine lebhafte Flamme. Baco nannte die Spiritus mortualis und
vitalis ein Mysterium von flammiger und luftiger Natur. Diese Geister
werden in der Gehirnrinde nach Art einer Destillation oder wie ein Sekret
gebildet, fließen durch Gehirn und Nerven in Röhrchen, die sie an die
feinsten Blutgefäße heranbringen.
Aber die Lebensgeister wurden um die Mitte des 18. Jahrhunderts
abgelöst durch die Lebenskraft, ein dynamisch wirksames Lebens-
prinzip, das dem Organismus innewohne und die Lebenserscheinungen
beherrsche und lenke. Mit dieser Lehre des Vitalismus trat die Schule
von Montpellier in führender Stellung hervor. Neben der Seele wirke
noch ein besonderes Prinzip, „die Natur“ in allen Teilen des Organismus
und verleihe ihnen das Leben. Auch dieser Vitalismus kämpft gegen
Chemiatrie und latrophysik. In Deutschland erhielt diese Lehre einen
mächtigen Anstoß durch die Irritabilitätslehre Albrecht v. Hallers.
Irritabilität und Sensibilität sind die Grundkräfte des Lebens und nicht
nur an Muskel und Nerv, sondern sie sind auf alle Teile des Körpers bis
 
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