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Viktor v. Weizsäcker
Der Mensch in seiner Welt ist dieser nicht gewachsen. Die
ersten Begegnungen mit ihr in der Stunde seiner Geburt gleichen
schwerer Gefahr; er begrüßt diese Welt mit unverkennbarem
Protest. Seine Hilfsbedürftigkeit zwingt ihn sowohl zum Wider-
streben wie zur Unterwerfung. Seine Verwundungen fordern zur
Vorsicht wie zum Kampf. In Gewöhnungen und Erziehungen
übernimmt er die Formen und Forderungen der Umwelt, und ist
doch zugleich bemüht, durch Verteidigung sein Selbst zu wahren,
durch Angriff sein Eigenstes der Umwelt aufzuzwingen. Von der
Mutterbrust bis zum Todeskampfe sind es daher die Krisen der
Behauptung in dieser Welt, welche abwechselnd mit Unterwerfung
unter Unüberwindliches und mit Sieg über Schwächeres aus-
gehen. Diese Krisen eben sind es aber, in denen wir jenen
Kampf der Gefühle, jene Ambivalenz der Affekte durchleiden, in
denen die großen Umgruppierungen der Reflexe, die Wandlungen
der Gewohnheiten, der Neigungen, der Bedürfnisse, die entschei-
denden biologischen und physiologischen Kräfteverschiebungen,
die Zerstörung alter und die Errichtung neuer Gleichgewichte er-
folgen. Sie sind eindrucksvoll in der Pubertät, in der Lebensmitte
und beim Einbruch des Alters. Aber wir kennen sie gleich heftig
bei den großen Erschütterungen der persönlichen Biographie wie
der allgemeinen Geschichte. Eben diese Krisen aber sind es, in
denen auch die Krankheit einbricht, oder die Disposition entsteht,
welche ihr später den Weg bereiten wird. Die genaueste Erfor-
schung einer solchen allgemeinen Pathologie hat erst begonnen,
aber sie wird uns Neues erschließen, und sie wird eine ganz
psychophysische sein. Versuchen wir die Grundform solcher
Psychophysik dem abzulesen, was wir schon gründlicher erforscht
haben, so kann sie nur so lauten:
Leibliche und seelische Phänomene können weder in Causal-
reihen verknüpft noch in Parallellinien geordnet werden. Ihre
Zusammenhangsregel lautet anders. Wir können sie nur darstellen,
wenn wir die Natur der Krisen und die Umordnung der Funk-
tions-Strukturen in ihnen wahrzunehmen gelernt haben. Immer
erkennen wir dann dies: ein Gleichgewicht besteht, nähert sich
aber seiner Grenze; nun bricht die Störung ein, es bricht zu-
sammen; ein alogischer Zustand, erfahrbar und doch nicht analy-
sierbar, wird durchlaufen, er kann als höchste Steigerung zu
Schwindel, Ohnmacht, äußerstem Schmerz, Vernichtungsgefühl,
Wollust oder Ekstase erlebbar werden; wird er überlebt, so sieht
Viktor v. Weizsäcker
Der Mensch in seiner Welt ist dieser nicht gewachsen. Die
ersten Begegnungen mit ihr in der Stunde seiner Geburt gleichen
schwerer Gefahr; er begrüßt diese Welt mit unverkennbarem
Protest. Seine Hilfsbedürftigkeit zwingt ihn sowohl zum Wider-
streben wie zur Unterwerfung. Seine Verwundungen fordern zur
Vorsicht wie zum Kampf. In Gewöhnungen und Erziehungen
übernimmt er die Formen und Forderungen der Umwelt, und ist
doch zugleich bemüht, durch Verteidigung sein Selbst zu wahren,
durch Angriff sein Eigenstes der Umwelt aufzuzwingen. Von der
Mutterbrust bis zum Todeskampfe sind es daher die Krisen der
Behauptung in dieser Welt, welche abwechselnd mit Unterwerfung
unter Unüberwindliches und mit Sieg über Schwächeres aus-
gehen. Diese Krisen eben sind es aber, in denen wir jenen
Kampf der Gefühle, jene Ambivalenz der Affekte durchleiden, in
denen die großen Umgruppierungen der Reflexe, die Wandlungen
der Gewohnheiten, der Neigungen, der Bedürfnisse, die entschei-
denden biologischen und physiologischen Kräfteverschiebungen,
die Zerstörung alter und die Errichtung neuer Gleichgewichte er-
folgen. Sie sind eindrucksvoll in der Pubertät, in der Lebensmitte
und beim Einbruch des Alters. Aber wir kennen sie gleich heftig
bei den großen Erschütterungen der persönlichen Biographie wie
der allgemeinen Geschichte. Eben diese Krisen aber sind es, in
denen auch die Krankheit einbricht, oder die Disposition entsteht,
welche ihr später den Weg bereiten wird. Die genaueste Erfor-
schung einer solchen allgemeinen Pathologie hat erst begonnen,
aber sie wird uns Neues erschließen, und sie wird eine ganz
psychophysische sein. Versuchen wir die Grundform solcher
Psychophysik dem abzulesen, was wir schon gründlicher erforscht
haben, so kann sie nur so lauten:
Leibliche und seelische Phänomene können weder in Causal-
reihen verknüpft noch in Parallellinien geordnet werden. Ihre
Zusammenhangsregel lautet anders. Wir können sie nur darstellen,
wenn wir die Natur der Krisen und die Umordnung der Funk-
tions-Strukturen in ihnen wahrzunehmen gelernt haben. Immer
erkennen wir dann dies: ein Gleichgewicht besteht, nähert sich
aber seiner Grenze; nun bricht die Störung ein, es bricht zu-
sammen; ein alogischer Zustand, erfahrbar und doch nicht analy-
sierbar, wird durchlaufen, er kann als höchste Steigerung zu
Schwindel, Ohnmacht, äußerstem Schmerz, Vernichtungsgefühl,
Wollust oder Ekstase erlebbar werden; wird er überlebt, so sieht