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Windelband, Wilhelm; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1914, 4. Abhandlung): Die Hypothese des Unbewußten: Festrede gehalten in der Gesamtsitzung der Heidelberger Akademie der Wissenschaften am 24.4.1914 — Heidelberg, 1914

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https://doi.org/10.11588/diglit.33307#0006
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W. Windelband:

Bewußtsein an den einzelnen Vorstellungen unter den Nullpunkt
der Intensität herabgedrückt werden kann. Solche Vorstellungen
sind dann nicht mehr eigentlich ,,wirkliche Vorstellungen“, aber
doch noch seelische Wirklichkeiten, welche miteinander als un-
hewußte .Strebungen im Streit liegen, und der ganze Mechanismus
des Seelenlebens läuft bei Herbart darauf hinaus, daß die Vor-
stellungen nach Maßgabe ihrer Intensität miteinander um die Über-
schreitung der Bewußtseinsschwelle, um den Eintritt in den hellen
Raum des Bewußtseins ringen.

So liefen viele und z. T. sehr verschiedenartige philosophische
Gedankenreihen auf das gemeinsame Ergebnis hinaus, der Psycho-
logie diese Hypothese des Unbewußten bereitzuhalten, und lange
schon, ehe Eduard von Hartmann alle diese Momente eindrucks-
voll zu einer neuen idealistischen Metaphysik zusammenfaßte, war
in der Psychologie, namentlich seit ihrer vorwiegend physiologischen
Orientierung, die Rede von den unbewußten psychischen Vorgängen
an der Tagesordnung, und man tat sich darauf namentlich in dem
Sinne etwas zugute, daß man die Psychologie damit von materia-
listischen Neigungen zu befreien oder fernzuhalten meinte. Dazu
ist dann endlich noch gekommen, daß diese Hypothese in der
neueren Zeit Hand in Hand geht mit einer anderen Hypothese,
welche gleichfalls als Erneuerung von Gedanken aus der großen
metaphysischen Bewegung nach Descartes in die Psychologie
hineingezogen worden ist; ich meine die dem Spinozismus nach-
gebildete Annahme des psychophysischen Parallelismus. Scheint
doch diese mit jener zu stehen oder zu fallen. Denn wenn jedem
Bewegungszustand des Leibes oder auch nur des Nervensystems
ein Erlebnis der Seele entsprechen soll, so versteht es sich von
selbst, daß der weitaus größte Teil dieser Erlebnisse unbewußten
Charakters sein muß und daß die Seele nur mit recht vornehmer
Auswahl einen sehr geringen Teil davon in bewußte Tätigkeit erhebt.
Der psychophysische Parallelismus ist mit einer Lehre von der Seele,
die nur bewußte und keine unbewußten Zustände hätte, niemals
vereinbar.

Und so ist es denn in der Psychologie und von ihr aus auch
in der allgemeinen Vorstellungsweise, wie sie sich namentlich in
der Literatur unserer Tage ausspricht, zu der herrschenden Mei-
nung geworden, daß den Grundstock des Seelenlebens die breite
Schicht des Unbewußten bilde, während nur die obersten Spitzen
dieses ganzen Zusammenhangs im klaren Lichte des Bewußtseins
 
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