WlLHELM BRAUNE:
Gesangsvortrag einen festen Bestandteil des christlichen Gottes-
dienstes bildete, und deren poetische Sätze, gekennzeichnet.
durch den parallelismus membrorum, in der Sprache der Kirche
als bezeichnet wurden. Schon in der im 6. Jahrhundert
entstandenen Benediktinerregel spielt der 'versus' als Psalmvers
eine große Rolle, sowohl im Gottesdienste als bei Tische ais Tisch-
gebet^). Alit den Psalmen gleichgesteht waren gewisse poetische
Stellen des alten und neuen Testaments, welche als 'cantica' den
Psalterhss. angefügt wurden und auch in Notkers Psalter mit
übersetzt sind. Ebenso das canticum canticorum, das Hohe Lied
Safomonis. Wenn die kirchliche Sprache die Glieder dieser bibli-
schen Poesien afs 'versus' bezeichnete, so war das gewiß sinngemäß,
auch galt für sie meist Gesangsvortrag in der kirchfichen Praxis.
Aber damit hatte das iateinische Wort, welches in seiner ersten
Bedeutung eine metrisch festgeregelte Zeile bedeutete, ohne Rück-
sicht auf Gliederung des Satzes und Sinnes, nun eine zweite Anwen-
dung erhalten für einen lateinischen vollständigen Satz, der äußer-
ficli Prosa war und nur durch einen abgeschfossenen und geglie-
derten Sinn zusammengehalten wurde.
Es war aiso diese zweite Anwendung von versus auf die poeti-
schen Bibefstelfen, insbesondere die Psalmen beschränkt. So bfieb
es im ganzen Mittefalter bis ins 16. Jahrhundert. Die sonstigen
nicht poetischen biblischen Bücher waren teilweise zwar schon
früher in einzelnen Idss. stichometrisch, nach Sinnsätzen geglie-
dert., geschrieben worden (ßißXcn oTt.x^pelp)^). Aber die defini-
tive Trennung und Durchzählung der einzefnen Sätze in den
Kapiteln der Bibel ist. doch erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts
eingeführt worden^). Erst nach dieser Zeit konnte die Bezeichnung
Wers', die bisher nur den poetischen Stücken derBibef eigen war,
auch auf die übrigen Bibelsätze prosaischer Art ausgedehnt werden,
weil in den Ausgaben nun Psalmen wie histoi'ische Bücher gleich-
Einige Beispiele (nach IlATTEMER I): 8. 87f. (Der Lektor bei Tische)
dicat hunc versum .... 'Domine labia mea aperies' etc. (Ps. 50, 17); S. 105
(Bei Empfang' von Gästen) Aquam in manibus abbas quam cuncta congre-
gatio lavet; quibus lotis hunc versum dicant: 'Suscipimus deus misericordiam
tuam in medio templi tui' (Ps. 47, 10).
^) Vgl. den Artikel 'Bibeltext' von O. v. GEBHARDT in Herzog-Haucks
Realenzyklopädie der protest. Theol.s 2, 732.
L Durch Rob. Stephanus (Etienne) 1551. Vgl. O. v. GEBHARDT a. a. O.
S. 755.
Gesangsvortrag einen festen Bestandteil des christlichen Gottes-
dienstes bildete, und deren poetische Sätze, gekennzeichnet.
durch den parallelismus membrorum, in der Sprache der Kirche
als bezeichnet wurden. Schon in der im 6. Jahrhundert
entstandenen Benediktinerregel spielt der 'versus' als Psalmvers
eine große Rolle, sowohl im Gottesdienste als bei Tische ais Tisch-
gebet^). Alit den Psalmen gleichgesteht waren gewisse poetische
Stellen des alten und neuen Testaments, welche als 'cantica' den
Psalterhss. angefügt wurden und auch in Notkers Psalter mit
übersetzt sind. Ebenso das canticum canticorum, das Hohe Lied
Safomonis. Wenn die kirchliche Sprache die Glieder dieser bibli-
schen Poesien afs 'versus' bezeichnete, so war das gewiß sinngemäß,
auch galt für sie meist Gesangsvortrag in der kirchfichen Praxis.
Aber damit hatte das iateinische Wort, welches in seiner ersten
Bedeutung eine metrisch festgeregelte Zeile bedeutete, ohne Rück-
sicht auf Gliederung des Satzes und Sinnes, nun eine zweite Anwen-
dung erhalten für einen lateinischen vollständigen Satz, der äußer-
ficli Prosa war und nur durch einen abgeschfossenen und geglie-
derten Sinn zusammengehalten wurde.
Es war aiso diese zweite Anwendung von versus auf die poeti-
schen Bibefstelfen, insbesondere die Psalmen beschränkt. So bfieb
es im ganzen Mittefalter bis ins 16. Jahrhundert. Die sonstigen
nicht poetischen biblischen Bücher waren teilweise zwar schon
früher in einzelnen Idss. stichometrisch, nach Sinnsätzen geglie-
dert., geschrieben worden (ßißXcn oTt.x^pelp)^). Aber die defini-
tive Trennung und Durchzählung der einzefnen Sätze in den
Kapiteln der Bibel ist. doch erst in der Mitte des 16. Jahrhunderts
eingeführt worden^). Erst nach dieser Zeit konnte die Bezeichnung
Wers', die bisher nur den poetischen Stücken derBibef eigen war,
auch auf die übrigen Bibelsätze prosaischer Art ausgedehnt werden,
weil in den Ausgaben nun Psalmen wie histoi'ische Bücher gleich-
Einige Beispiele (nach IlATTEMER I): 8. 87f. (Der Lektor bei Tische)
dicat hunc versum .... 'Domine labia mea aperies' etc. (Ps. 50, 17); S. 105
(Bei Empfang' von Gästen) Aquam in manibus abbas quam cuncta congre-
gatio lavet; quibus lotis hunc versum dicant: 'Suscipimus deus misericordiam
tuam in medio templi tui' (Ps. 47, 10).
^) Vgl. den Artikel 'Bibeltext' von O. v. GEBHARDT in Herzog-Haucks
Realenzyklopädie der protest. Theol.s 2, 732.
L Durch Rob. Stephanus (Etienne) 1551. Vgl. O. v. GEBHARDT a. a. O.
S. 755.