Metadaten

Dove, Alfred; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1916, 8. Abhandlung): Studien zur Vorgeschichte des deutschen Volksnamens — Heidelberg, 1916

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.34079#0036
License: Free access  - all rights reserved
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
36

ALFRED ÜOVE:

Nichts wäre verkehrter, als in dies Wort den reichen Inhalt
des modernen Begriffes der 'Nation' hineinzutragen; dasselbe
drückt vielmehr eigentfich nichts weiter aus, als die Tatsache der
gemeinsamen Abkunft irgend einer Menschenmenge. Jede gens
ist daher in der Hauptsache eine natio, aber keineswegs jede natio
eme gens^. Jordanis führt einmal die ganze Masse der gotisch
redenden Leute, d. h. nach seiner Ansicht den Inbegriff dreier
VölkerschafLen, als omnem ubique linguae hujus nationem eink
Weit häufiger hingegen wird der Umfang der natio enger gedacht,
als der der gens; jene .erscheint sozusagen als eine Fraktion des
Volkstums. So lesen wir bei Jonas, dem Biographen Golumbans:
sunt enim inibi vicinae nationes Suevorum, d. h. die Abteilungen
des Schwabenvolkes; Theoderich nennt bei Cassiodor den von
Ghlodovech unterworfenen größeren Teil der gens Alamannorum
eine innumerabiiis natio, indem er zugleich für den kleineren
Rest, die fessae reliquiae, Schonung erbittet; Jordanis endlich
läßt die gens der Viclivarier ausdrücklich aus der Vereinigung
verschiedener nationes hervorgehen^. Dem entsprechend pflegt
man für gentes selber vorzugsweise da nationes zu sagen, wo es
sich um die natürliche Mannigfaltigkeit des ethnischen Lebens im
großen, um die Kontraste im Wesen vieler, neben einander bestehen-
der Völkerschaften handelt, wo dem descriptor gentium beim
Uberblick über die Bevölkerung ausgedehnter Länder oder Reiche,
wie Ammian bei solcher Gelegenheit sagt, per nationes dissonas
et multiplices hominum quoque diversitates ut locorum begegnen^.
i Yg'I. die oben S.25, A.2 beigebrachtenDefinitionenGassiodors. Eswird
darin zugleich der gens im Gegensatz zum rein physischen Begriffe der natio
ein historisch modifizierter Gharakter zugesprochen. Auf dieselbe Unter-
scheidung läuft wohl auch der vermutlich rein cassiodorische Satz des Jor-
danis Get. 25 hinaus: ex hac Scandza insula quasi officina gentium aut certe
velut vagina nationum Gothi quondam memorantur egressi.
^ Get. 133. MoMMSENS Erklärung von omnis natio durch 'jede Nation'
scheint mir unhaltbar: es ist vielmehr gemeint 'alles, was irgendwo von Geburt
der gotischen Zunge angehört'. Cf. natio omnis Gallorum, Gaes. d. b. Gall.
VI, 16.
s ZEuss 316; Gassiod. Var. II, 41 ; Jord. Get. 36; 96. — Die gewöhniich
angeführten Stellen bei Cicero (d. nat. D. III, 93; d. off. I, 53) beweisen zwar
die allgemeine Neigung, natio für enger als gens anzusehen, zugleich jedoch
den unbestimmten Umfang des ersteren; denn die Gradation — von der
civitas zum genus humanum u. umgekehrt —- ist beidemal auf den Zwischen-
stufen nicht scharf durchgeführt.
^ Ammian. XXIII, 6, 1; 75.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften