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Neckel, Gustav; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1918, 7. Abhandlung): Studien zu den germanischen Dichtungen vom Weltuntergang — Heidelberg, 1918

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https://doi.org/10.11588/diglit.37669#0044
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Gustav Neckel:

haar, und ihre Zähne waren wie der Löwen. Und hatten Brust-
körbe1 wie eiserne Panzer; und das Rasseln ihrer Flügel wie das
Rasseln an den Wagen vieler Rosse, die in den Krieg laufen. Und
hatten Schwänze gleich den Skorpionen...’. Diese Wesen sind
also zwar dem Namen nach Heuschrecken — dadurch bekennen
sie sich zu ihrer Abkunft von alttestamentlichen Prophetien wie
Joel If. —, ihr Aussehen aber als geflügelte Kentauren mit
Skorpionsschwänzen ist das der Kentauren auf babylonischen
Grenzsteinen und auf ägyptisch-hellenistischen Himmelsbildern2.
Wie kommt der Apokalyptiker dazu, die so verschiedenartigen
Vorstellungen der Heuschrecken und der Flügelkentauren mit-
einander zu verschmelzen ? Er kann schwerlich allein durch das
Äußere dieser Fabelwesen angeregt worden sein — wie er es aller-
dings auf zeitgenössischen Planisphären sehen konnte —; er wird
auch etwas von ihrer Biologie gewußt haben, und die wird der-
jenigen der alttestamentlichen und babylonischen Plageheu-
schrecken ähnlich gewesen sein. Daß jene Kentauren Plagewesen
waren, zeigen ihre Skorpionsschwänze; daß sie durch die Luft
kamen, ihre Flügel und jedenfalls auch ihr Vorkommen auf den
Himmelsbildern, dem ihre Beziehung zum babylonischen Himmel
zugrunde liegt3. Das Vorkommen ihres Bildes auf Grenzsteinen
dürfte sich aus der Absicht erklären, den Grenzverletzer abzu-
schrecken. Es gab also in hellenistischer Zeit und schon im alten
Babylonien die Vorstellung von durch did Luft einherkommenden
reiterähnlichen Unholden. Das ist etwas Ähnliches wie die über
den Dunkelwald reitenden, Verderben drohenden Muspellssöhne.
Wir wissen ja nicht, wie letztere aussahen. Daß sie nicht schlecht-
hin menschengestaltig vorgeschwebt haben, darauf weist ihre
Vermischung mit den nordischen Riesen; das zeigt auch ihr Auf-
treten mit dem Fenriswolf zusammen in Völuspä 51, das den
1 xocl el^ov DApaxap ax; ü-wpaxa? aiS^poüg, vgl. F. Boll, Aus der Offen-
barung Johannis (1914) S. 76.
2 Boll a. a. 0. 68ff. Abbildung eines babylonischen Kudurru-Ken-
tauren bei King, Babylonian Boundary-stones (1912) Tafel XXIX A.
3 Vgl. King a. a. O. S. VIII: It is now generally assumed that the
sculptured emblems . . . are of an astral character, and represent symboli-
cally . . . the principal stars and constellations known to the Babylonians;
and in the case of many of them there is no doubt that this was so, at any
rate in the later periods. Das Ursprüngliche dürfte der Volksglaube
sein, der die Luft mit mythischen Wesen bevölkerte. Erst später hat man
diese mit Sternen und Sternbildern gleichgesetzt.
 
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