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ConstanTin Ritter:
ein nach diesem Vorbild eingerichteter Staat sich wohl wirklich
in allen Schwierigkeiten und Gefahren, die die tatsächlichen Ver-
hältnisse mit sich bringen, als tüchtig und widerstandsfähig er-
weisen würde; und es wird vorgeschlagen, zur Entscheidung dieser
Frage Erfahrungen aus der bekannten Staatengeschichte heran-
zuziehen. Dann aber wird gefunden, noch wichtiger für die Be-
urteilung der entworfenen Idealverfassung sei es, daß die natur-
gegebenen Bedingungen aufgezeigt werden, unter denen die Men-
schen alle zu leben und ihre Staaten einzurichten hätten. Denn
— das ergänzt sich von selbst — diesen Bedingungen eben müßte
die ideale Verfassung jedenfalls angepaßt sein. Wenn nämlich der
Zweck des Staates darin bestehe, seinen Bürgern allen die größte
für sie erreichbare Glückseligkeit zu sichern, so müsse der Ordner
(der Gesetzgeber und Leiter) des Staats über die wesentlichen
Stücke derselben und über die Mittel zu ihrer Erreichung sich volle
Rechenschaft geben und dürfe nur eben die wirklich unter den
vorhandenen Naturbedingungen erreichbare Glückseligkeit, nicht
einen bloß von der Phantasie ausgemalten Begriff derselben sich
zum Richtpunkt und Ziel setzen.
Der Pythagoreer Timaios, Staatsmann und Naturforscher zu-
gleich, übernimmt es, die naturgegebenen Verhältnisse, unter
denen alles menschliche Leben und Streben steht und durch die
es bedingt ist, zu schildern. Er schickt aber die Bemerkung vor-
aus, mit der er auch nachher noch gar oft seine Darlegungen unter-
bricht, daß es sich bei einer solchen Schilderung leider nicht um
wissenschaftlich gesicherte Ergebnisse, sondern nur um Wahr-
scheinlichkeit höheren oder niedereren Grades handeln könne.
Darauf führt er — freilich zum Teil in anderer Verkettung der
Gedanken, als ich sie hier herstelle — etwa folgendes aus: Die
Dinge, die auf unser Leben einwirken und sich unserer sinn-
lichen Wahrnehmung darbieten, sind alle veränder-
lich, in beständigem Anderswerden begriffen. Jede Stufe der Ent-
wicklung, die sie durchmachen, wird bedingt durch eine andere, ihr
vorausgehende, wie sie ihrerseits eine andere, ihr nachfolgende be-
dingt. Es ist daher nicht möglich, wenn wir dem Weg der Ent-
wicklung von irgend einem Punkt aus rückwärts stufenweise folgen,
zu einem ersten Punkt, einem wirklichen Anfang zu gelangen. Immer
haben wir es, wenn wir den zurückgelegten Weg übersehen, nur
mit Teilstrecken der ganzen Entwicklung zu tun. Aber während
wir so vergebens den Anfang der unendlichen Reihe suchen, ent-
ConstanTin Ritter:
ein nach diesem Vorbild eingerichteter Staat sich wohl wirklich
in allen Schwierigkeiten und Gefahren, die die tatsächlichen Ver-
hältnisse mit sich bringen, als tüchtig und widerstandsfähig er-
weisen würde; und es wird vorgeschlagen, zur Entscheidung dieser
Frage Erfahrungen aus der bekannten Staatengeschichte heran-
zuziehen. Dann aber wird gefunden, noch wichtiger für die Be-
urteilung der entworfenen Idealverfassung sei es, daß die natur-
gegebenen Bedingungen aufgezeigt werden, unter denen die Men-
schen alle zu leben und ihre Staaten einzurichten hätten. Denn
— das ergänzt sich von selbst — diesen Bedingungen eben müßte
die ideale Verfassung jedenfalls angepaßt sein. Wenn nämlich der
Zweck des Staates darin bestehe, seinen Bürgern allen die größte
für sie erreichbare Glückseligkeit zu sichern, so müsse der Ordner
(der Gesetzgeber und Leiter) des Staats über die wesentlichen
Stücke derselben und über die Mittel zu ihrer Erreichung sich volle
Rechenschaft geben und dürfe nur eben die wirklich unter den
vorhandenen Naturbedingungen erreichbare Glückseligkeit, nicht
einen bloß von der Phantasie ausgemalten Begriff derselben sich
zum Richtpunkt und Ziel setzen.
Der Pythagoreer Timaios, Staatsmann und Naturforscher zu-
gleich, übernimmt es, die naturgegebenen Verhältnisse, unter
denen alles menschliche Leben und Streben steht und durch die
es bedingt ist, zu schildern. Er schickt aber die Bemerkung vor-
aus, mit der er auch nachher noch gar oft seine Darlegungen unter-
bricht, daß es sich bei einer solchen Schilderung leider nicht um
wissenschaftlich gesicherte Ergebnisse, sondern nur um Wahr-
scheinlichkeit höheren oder niedereren Grades handeln könne.
Darauf führt er — freilich zum Teil in anderer Verkettung der
Gedanken, als ich sie hier herstelle — etwa folgendes aus: Die
Dinge, die auf unser Leben einwirken und sich unserer sinn-
lichen Wahrnehmung darbieten, sind alle veränder-
lich, in beständigem Anderswerden begriffen. Jede Stufe der Ent-
wicklung, die sie durchmachen, wird bedingt durch eine andere, ihr
vorausgehende, wie sie ihrerseits eine andere, ihr nachfolgende be-
dingt. Es ist daher nicht möglich, wenn wir dem Weg der Ent-
wicklung von irgend einem Punkt aus rückwärts stufenweise folgen,
zu einem ersten Punkt, einem wirklichen Anfang zu gelangen. Immer
haben wir es, wenn wir den zurückgelegten Weg übersehen, nur
mit Teilstrecken der ganzen Entwicklung zu tun. Aber während
wir so vergebens den Anfang der unendlichen Reihe suchen, ent-