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Warburg, Aby Moritz; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1919, 26. Abhandlung): Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten — Heidelberg, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.37732#0022
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22

A. Warburg:

Und fast noch merkwürdiger ist die Tatsache, daß sogar
Melanchthon und seine Freunde sich für diese Datumverschiebung
auf das Konstellationsjahr 1484, gegen das sich Luther selbst mit
solcher Entschiedenheit wendet, eingesetzt haben.
Das Phänomen dieses zähen Festhaltens heidnisch-astrolo-
gischer Praktik im nächsten Umkreis der Freunde des sterndeuter-
feindlichen Reformators verliert etwas an Unbegreiflichkeit, wenn
man — auf den hier geführten Nachweis der Carion-Reinhold-
Nativitätals reformierenden astrologischen Vermittlungs-
versuches gestützt — auch alle jene ähnlichen Bemühungen der
Luther befreundeten Gelehrten als persönliche, sehr ernsthafte
Bestrebungen ansieht, die durch die Italiener feindselig stilisierte,
nach Wittenberg getragene Geburtskonstellation dadurch zu ent-
kräften, daß man durch willkürliche Geburtszeitenverschiebung eine
Milderung des kosmologischen Dekretes, das ja auch jenen deut-
schen Astrologen durch eine große Planeten-Konjunktion verhängt
erschien, zu erzielen trachtete. Als Wahrzeichen des unbestreit-
baren Überlebens und Eingreifens paganer Kultur bleibt dabei
um so unwiderleglicher bestehen, daß diese Wittenberger Astro-
logen — völlig in dem spätmittelalterlichen Sternglauben eines
Gauricus wurzelnd — durch solche Zeitenverschiebung mehr oder
weniger radikaler Art einen Willkürakt begehen, bei dem sie die
objektive Feststellungspflicht historischer Forschung der mytho-
logisierenden Verursachung als relatives Element unterordnen
müssen. Die kosmologisch bedingte, echt hellenistische, spät-
mittelalterliche Geschichtsauffassung war eben in ihrer Epochen-
lehre so entscheidend an das Auftreten von gewissen Planeten-
Konjunktionen in bestimmten Zeiträumen geknüpft45, daß ein
neuer Prophet erst durch das Zusammentreffen von oberen Pla-
neten, vor allem von Saturn und Jupiter, seine kosmologische Weihe
erhielt: wie plastisch-gläubig solche Saturnkindschaft gefühlt war,
wie aber Luther sich diesen Saturn auch nicht als patronisierende
Einzelgottheit aufdrängen ließ, zeigt eine Äußerung zwischen dem
26. und 31. Mai 1532, also gerade aus jenen Tagen, die sich an die
Gegenwart des Gauricus in Wittenberg anschlossen. Luther sagt:
(in der Form heidnischen Geburtstagskultes) bei den Führern im Ringen um
den Denkraum klaren historischen Bewußtseins, noch dazu zur selben Zeit
und am selben Ort, wo gerade der Entscheidungskampf um das freie deutsche
Denk-Gewissen entfacht war und loderte.
45 S. u. S. 29 ff.
 
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