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Warburg, Aby Moritz; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1919, 26. Abhandlung): Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten — Heidelberg, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.37732#0063
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Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten. 63
In dem Übergangs-Zeitalter der Frührenaissance empfing die
kosmologisch-heidnische Kausalität ihre Ausprägung in antiki-
sierenden Göttersymbolen, von deren Sättigung mit Menschen-
haftigkeit die Art der Auseinandersetzung abhängt, die vom reli-
giösen Dämonenkult zur rein künstlerisch-vergeistigten Umge-
staltung führte.
Lichtenberger, Dürer und Luther zeigen drei Phasen des
Deutschen im Kampf wider heidnisch-kosmologischen Fatalismus.
Bei Lichtenberger (Abb. 27) erblicken wir zwei entartete, häß-
liche Sterndämonen im Kampf um die Oberherrschaft der mensch-
lichen Schicksalslenkung; ihr Objekt aber, der Mensch selbst, fehlt.
Bei Dürer dagegen werden sie umgeformt durch Wiedergeburt im
Sinne einer klassischen Formensprache118, behalten jedoch aus ihrer
hellenistisch-arabischen Wanderschaft die Zeichen der schicksal-
haften Gebundenheit.
Der kosmische Konflikt klingt als Vorgang im Innern des
Menschen selbst wieder. Die fratzenhaften Dämonen sind ver-
schwunden, der finstere Trübsinn des Saturn ist humanistisch ver-
geistigt in menschliche Nachdenklichkeit. Die tief in sich ver-
sunkene geflügelte Melancholia sitzt, den Kopf auf die Linke
gestützt, einen Zirkel in der Rechten, inmitten technischer und
mathematischer Geräte und Symbole; vor ihr hegt eine Kugel.
Zirkel und Kreis (und also auch die Kugel) sind nach der alten
Übersetzung des Ficino119 das Denksymbol der Melancholie: ,,Aber
118 Es sei hervorgehoben, daß in der ,,Melencolia. I“ auch rein „formal“
antike Überlieferung nachklingt. Das zeigt das Sternsymbol eines Dekans
zu den Fischen im Steinbuch des Alfonso (Lapidario del rey D. Al-
fonso X., Madrid 1883, Bl. 99v). Dieses Dekangestirnbild ist in Form und
Inhalt die transponierte Figur eines liegenden Flußgottes mit aufgestütztem
Kopf, der eben als „Eridanos“ (vgl. Abü Ma'sar bei Boll, Sphaera S. 537)
als mitaufgehender Stern zum Zeichen der saturnbeherrschten, wässerigen
Fische gehört. Eine ganz ähnliche Stellung weist nun die männliche antike
Zwickelfigur auf, die — mit einer weiblichen zusammen — Dürer auf einem
frühen Holzschnitt in einem Torbogen angebracht hat (Die heil. Familie,
Holzschnitt B. 100. Abb. bei Val. Scherer, Dürer. Klass. d. Kunst Bd. IV,
S. 189).
So darf man die „Melencolia“ in Stoff und Form als Symbol der huma-
nistischen Renaissance ansprechen. Sie wiederbeseelt eine antike Flußgott-
Pose in hellenistischem Geiste, hinter dem aber das neue Ideal der befreienden,
bewußten Energie des modernen Arbeitsmenschen aufdämmert.
119 Von Mülich, abgedruckt bei Giehlow a. a. O. 1903, S. 36.
 
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