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F. Boll:
Es ist im innersten Wesen des Griechentums begründet, über
das nur Individuelle hinaus, dem es eine nie ermattende, freudige
wie gehässige Aufmerksamkeit geschenkt hat, zu Typen fortzu-
schreiten, das heißt unter Verzicht auf die zufällig gegebenen
Besonderheiten das Gemeinsame und allgemein Gültige zu erfassen.
,,In der Allheit der Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungs-
grund für das Individuum auf“ — dieses Wort, das Schiller in
dem berühmten Brief für Goethes Wesen geprägt hat, gilt auch
vom Griechentum. Die griechische Kunst wie die Weltanschauung
strebt nach diesem Allgemeingültigen, Gesetzmäßigen; dem Aristo-
teles ist darum die Dichtung philosophischer als die Geschichte.
So haben die Griechen denn auch die charakteristischen Grund-
züge jeder möglichen Lebensführung, jedes βίος, wie sie sagten,
herausgearbeitet, für den einzelnen wie für die Gesamtheit. Den
Haupttypen des Staates, des monarchischen, aristokratischen,
demokratischen, der Pöbel- und der Gewaltherrschaft hat Platon
in seinen Büchern vom Staat mit mächtiger Leidenschaft und
Einseitigkeit die Typen der Menschen gegenübergestellt, die einer
jeden dieser Staatsformen in ihrem Wesen entsprechen und sich
darum in ihr wohl fühlen werden. Aristoteles hat die ethischen
Grundformen mit reifster Menschenkenntnis entwickelt und die
charakteristischen LTnterschiede der Altersstufen so fein heraus-
gearbeitet, daß er seinen zahlreichen Nachfolgern bis auf Schopen-
hauer nicht mehr allzuviel Neues darüber zu sagen übrig ließ.
Und sein großer Schüler Theophrast bewährt auch hier die gleiche
unermüdliche Andacht zum Kleinen, die ihn zum ersten eindringen-
den Beobachter der Gattungen und Lebensweisen der Pflanzen
werden ließ. In dem kleinen Büchlein seiner ,,Charaktere“ hat er die
verschiedenenMenschenarten einer kleinbürgerlich engen Welt in sehr
feinen Nuancen Zug für Zug in musivischer Arbeit zu lebensvollen
Bildern gestaltet. Er hat zahlreiche Nachfolger in allerlei ähnlichen
Versuchen gefunden, bis zu den Pbysiognomikern des Altertums
und der Neuzeit, die den Schluß aus den körperlichen Eigenheiten
auf das Innere des Menschen wagten.
In solcher Art haben die Alten auch die Lebensideale, die
Formen des geistigen und sittlichen Daseins, die ein jeder bewußt
oder triebhaft sich wählt, in großen Gruppen und einzelnen Typen
zu überschauen versucht. Drei Hauptwege des Lebens sind es,
die ihr weisester Meister Aristoteles unterscheidet, der βίος άπολαυ-
στικός, das Leben des Genusses; der βίος πρακτικός, das Leben
F. Boll:
Es ist im innersten Wesen des Griechentums begründet, über
das nur Individuelle hinaus, dem es eine nie ermattende, freudige
wie gehässige Aufmerksamkeit geschenkt hat, zu Typen fortzu-
schreiten, das heißt unter Verzicht auf die zufällig gegebenen
Besonderheiten das Gemeinsame und allgemein Gültige zu erfassen.
,,In der Allheit der Erscheinungsarten suchen Sie den Erklärungs-
grund für das Individuum auf“ — dieses Wort, das Schiller in
dem berühmten Brief für Goethes Wesen geprägt hat, gilt auch
vom Griechentum. Die griechische Kunst wie die Weltanschauung
strebt nach diesem Allgemeingültigen, Gesetzmäßigen; dem Aristo-
teles ist darum die Dichtung philosophischer als die Geschichte.
So haben die Griechen denn auch die charakteristischen Grund-
züge jeder möglichen Lebensführung, jedes βίος, wie sie sagten,
herausgearbeitet, für den einzelnen wie für die Gesamtheit. Den
Haupttypen des Staates, des monarchischen, aristokratischen,
demokratischen, der Pöbel- und der Gewaltherrschaft hat Platon
in seinen Büchern vom Staat mit mächtiger Leidenschaft und
Einseitigkeit die Typen der Menschen gegenübergestellt, die einer
jeden dieser Staatsformen in ihrem Wesen entsprechen und sich
darum in ihr wohl fühlen werden. Aristoteles hat die ethischen
Grundformen mit reifster Menschenkenntnis entwickelt und die
charakteristischen LTnterschiede der Altersstufen so fein heraus-
gearbeitet, daß er seinen zahlreichen Nachfolgern bis auf Schopen-
hauer nicht mehr allzuviel Neues darüber zu sagen übrig ließ.
Und sein großer Schüler Theophrast bewährt auch hier die gleiche
unermüdliche Andacht zum Kleinen, die ihn zum ersten eindringen-
den Beobachter der Gattungen und Lebensweisen der Pflanzen
werden ließ. In dem kleinen Büchlein seiner ,,Charaktere“ hat er die
verschiedenenMenschenarten einer kleinbürgerlich engen Welt in sehr
feinen Nuancen Zug für Zug in musivischer Arbeit zu lebensvollen
Bildern gestaltet. Er hat zahlreiche Nachfolger in allerlei ähnlichen
Versuchen gefunden, bis zu den Pbysiognomikern des Altertums
und der Neuzeit, die den Schluß aus den körperlichen Eigenheiten
auf das Innere des Menschen wagten.
In solcher Art haben die Alten auch die Lebensideale, die
Formen des geistigen und sittlichen Daseins, die ein jeder bewußt
oder triebhaft sich wählt, in großen Gruppen und einzelnen Typen
zu überschauen versucht. Drei Hauptwege des Lebens sind es,
die ihr weisester Meister Aristoteles unterscheidet, der βίος άπολαυ-
στικός, das Leben des Genusses; der βίος πρακτικός, das Leben