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Boll, Franz; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1920, 8. Abhandlung): Vita contemplativa: Festrede zum zehnjährigen Stiftungsfeste der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Stiftung Heinrich Lanz — Heidelberg, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.37775#0012
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F. Boll:

und ihre Lehre bis tief in die hellenistische Zeit durchaus nichts
tut, läßt sie dafür auch frei gewähren. Gegen den Copernicus des
Altertums, Aristarch von Samos, der im 3. Jahrhundert v. Ghr.
die Umdrehung der Erde und der Planeten um die Sonne lehrte,
hat der Stoiker Kleanthes umsonst in einer eigenen Schrift vor
allen Hellenen fast Wort für Wort dieselbe Anklage erhoben, die Ga-
lilei nahezu zweitausend Jahre später vorgehalten worden ist: aber es
gab keine griechische Priesterschaft, in deren Pflichten- oder Vor-
stellungskreises auch nur von ferne gelegen hätte, sich um solche Dinge
anzunehmen, und der Ruf verhallte, soviel wir wissen, ungehört.
Für uns handelt es sich hier nicht so fast um jene besonderen
und extremen Fälle, als um die dauernde Haltung, die der Grieche,
namentlich der klassischen Zeit, gegenüber der unbedingten Hin-
gabe eines Menschenlebens an die Wissenschaft einnahm. Euri-
pides hat die ganze Stärke des Gegensatzes in einem seiner späteren
Dramen, der Antiope, dargestellt, in jenem berühmten Kampf-
gespräch der beiden grundverschiedenen Brüder: Zethos, als Ver-
treter des tätigen, und Amphion, als der des schauenden Lebens,
dem der Bruder sein gewinn- und tatenloses, nur den Musen geweih-
tes Dasein zum Vorwurf macht, während ihm die Kraft des Geistes
höher gilt als ein starker Arm; eine eindrucksvolle Szene, deren
sich Plato und die Späteren gern erinnerten. Vor allem aber muß
man die Komödie befragen, schon die sizilische des Epicharm und
noch mehr die attische, von dem Chor der doppelköpfigen und
tausendäugigen Allschauer, den Kratinos auf die Bühne bringt,
und den genialen Wolken des Aristophanes, dem bodenlos ungerech-
ten Zerrbild des Sokrates, bis zu den persönlichen Angriffen der
mittleren Komödie auf Akademiker und Pythagoreer; und weiter-
hin muß man den Erben der Tragödie und Komödie zugleich, den
platonischen Dialog hören, dann die griechisch-römische Satire,
von dem Spötter Timon von Phlius bis zu Horaz und Lukian; und
dazu die epigrammatische Dichtung, auch die in Wort und
Schrift reich wuchernde Tradition der Anekdote.
In all dieser Literatur zeigt sich eine oft sehr scharfe und wenig
liebevolle Kritik des „theoretischen“ Menschen. Mochte sich auch
schon der alte Sängerphilosoph Xenophanes mit Erbitterung gegen
das maßlos vergötterte Ideal des siegreichen Athleten und Wett-
kämpfers wenden und Sokrates ihrer Überschätzung den Wert seines
eigenen Tuns für Athen gegenüberstellen: für den normalen Grie-
chen unterschied sich eben doch die blasse Stubenhockerfarbe des
 
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