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Boll, Franz; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1920, 8. Abhandlung): Vita contemplativa: Festrede zum zehnjährigen Stiftungsfeste der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Stiftung Heinrich Lanz — Heidelberg, 1920

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https://doi.org/10.11588/diglit.37775#0014
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F. Boll:

Weise mehr als einmal ausgesprochen: man wird unmännlich,
wehrlos, unfähig zum Leben, zum Verkehr mit anderen Menschen,
zur Wirksamkeit im Staate, wenn man sich über die Jahre unum-
gänglichen Lernens hinaus der Wissenschaft hingibt. Und mit
tieferer Bitterkeit selbst als im Gorgias äußert sich der sechzig-
jährige Plato in einem auffallend gewaltsam eingeführten Exkurs
seines Theätet, der nur aus schweren eigenen Erfahrungen in Athen
verständlich ist. In herber Rücksichtslosigkeit werden hier die
krummen Wege gezeichnet, zu denen der Politiker sich herbei-
läßt, die Lügen und Schmeicheleien gegen das Volk, und wie er sich
bei alledem mit seiner Schmach noch brüstet und sich nicht als
eine unnütze Last der Erde vorkommt, sondern recht als ein Mann
von solcher Art, wie sie sich im Staate obenauf zu halten versteht.
Ihm wird dann der Mensch des theoretischen Lebens gegenüber-
gestellt. Er weiß nicht einmal den Weg zum Markt und zum
Gerichtshof; politische Verbindungen zu suchen, sich in Vereinen
Anhang zu verschaffen, nach Staatsämtern zu streben liegt ihm
ebenso fern, wie sich um die edlen oder bescholtenen Vorfahren
seiner Mitbürger zu bekümmern; das alles ist ihm so gleichgültig
wie die Zahl der Tropfen im Meere. Ja, er weiß nicht einmal, daß
er von dem allen nichts weiß; denn nur sein Leib weilt in seiner
Stadt, sein Geist aber, der das alles verschmäht, weil es ihm als
ein bloßes Nichts erscheint, dringt nach Pindars Worten überall
hin und mißt der Erde Tiefen und Flächen und am Himmel droben
den Weg der Sterne. Und da mag dann wohl die Menge über ihn
höhnen, wie jene thrakische Sklavin über Thaies, wenn er, den
Blick nach oben gerichtet, zu spät die Zisterne vor seinen Füßen
sieht. So geht es jedem Menschen von Thaies’ Art: er wird sich
vor Gericht nicht zu helfen wissen, weil er sich um nichts von all
den kleinen Erbärmlichkeiten seiner Ankläger gekümmert hat,
durch die er ihnen beikommen könnte; und bei den täglichen
Geschäften, die jeder Knecht gelernt hat, wird er seine Ungeschick-
lichkeit und Unbrauchbarkeit zeigen. Wenn es dann freilich gilt,
von dem zu sprechen, was über die nichtige Prozeßfrage ,,Tu ich
dir Unrecht und nicht vielmehr du mir ?££ hinausgeht, von dem
Wesen der Dinge und des Menschen, dann faßt den andern, den
Mann des praktisch-politischen Lebens, auf solcher freien Höhe
ein Schwindel; er fühlt sich hilflos, weil er die Sprache, die hier
gesprochen wird, nicht versteht, und macht nun vielmehr sich
lächerlich, freilich nicht vor dem Pöbel, wohl aber vor denen, die
nicht wie Sklaven aufgezogen sind.
 
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