Metadaten

Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0077
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Studien zur Spätscholastik. I.

77

Bedeutung, wenn man sich erinnert, daß für Aristoteles das Kausal-
verhältnis mit dem der logischen Unterordnung zusammenfällt,
also Priorität der Wirkung gegenüber der Ursache zugleich Priorität
des Besonderen gegenüber dem Allgemeinen bedeutet. Ganz deut-
lich wird das Erfahrungsprinzip an einer anderen Stelle des Buches
ausgesprochen; dort gilt der Satz: Philosophia naturalis fundatur
super experientiam als Voraussetzung, die keines Beweises bedarf1.
Und ähnliche Sätze finden sich in dem Traktat de generatione et
corruptione, der (echt aristotelisch) die Selbstevidenz der logischen
Axiome als „höchste Evidenz“ der aus Erfahrung und Sinnes-
eindrücken entstammenden „natürlichen Evidenz“ gegenüberstellt;
die letztere führt freilich nur zur Erkenntnis der äußeren Dinge
als solcher, nicht ihrer metaphysischen Wesenheit. Aber sie genügt
für den Naturphilosophen2. Und an anderer Stelle wird die „logi-
sche“ Betrachtungsweise geradezu in Gegensatz gebracht zur
„physikalischen“3. So zeigt sich, daß die empiristisehen Motive
der „modernen“ Erkenntnislehre keineswegs durch „logischen For-
malismus“ oder rationalistische Theorien erstickt sind. Ein anderes
ist die Frage, ob auch in der praktischen Durchführung der physi-
kalischen Weltbetrachtung die Erfahrung das letzte Wort behält
oder ob und wie weit etwa hier die empiristi sehe Theorie versagt
zugunsten autoritativer Überlieferung und logisch-metaphysischer
Konstruktionen, wie sie der antike Vernunftoptimismus in den
Mittelpunkt auch der physikalischen Erörterung gestellt hatte.
Die Forschungen Dühems über das physikalische Weltbild
der Pariser Nominalisten des 14. Jahrhunderts suchen die These
zu begründen, es sei damals eine grundsätzliche Reaktion gegen
die überlieferte aristotelische Weltvorstellung erfolgt. Duhem sieht
den ersten Anstoß zu dieser Reaktion in den sogenannten articuli
Parisienses von 12774, in denen der Pariser Bischof Stephan
Tempier im Aufträge Johanns XXI. und nach Verhandlung mit
1 Druck nr. 13, Bl. 32, d.
2 Druck nr. 7, 1. I, qu. 2, art. 3, Bl. g 4V: Summa vocatur evidentia, quae
habita de aliqua propositione, et habens eam credendo illam non potest decipi, et
tali evidentia seit quisque se esse et principia communia et sic de aliis. Naturalis
vero dicitur, quae habetur ex experientiis et coniecturationibus sensibilibus for-
tioribus ad unam partem contradictionis quam ad aliam . . . Evidentia naturalis
. . . sufficit ad philosophum naturalem.
3 ibid. 1. I, qu. 5, in oppositum, divisio des Hauptteils.
4 Abdruck: Denifle, Chart. I, 543 ff. Vgl. Duhem II, 75 u. Anhang
446 ff.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften