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Gerhard Ritter:
den Theologen der Universität 219 Sätze der peripatetisch-averro-
istischen Lehre als ketzerisch verdammte. Ähnliche Verbote waren
ohne Erfolg im XIII. Jahrhundert schon mehrfach ergangen1;
diesmal richtete sich das Verdammungsurteil insbesondere gegen
zahlreiche Sätze des Averroisten Siger von Brabant und gegen
einzelne Lehren des Thomas von Aquino, wodurch die Angelegen-
heit zu einer Streitfrage größten Stiles unter den philosophischen
Parteien wurde2 * *. Erweist sich die These von der einflußreichen
Mitwirkung des Heinrich von Gent bei der Aufstellung der „Pariser
Artikel“, die Duhem wahrscheinlich macht, als haltbar, so eröffnet
sich eine historische Perspektive von großer Reichweite.
Heinrich von Gent vertritt als Gegner des Thomas gewisse
Motive der augustinischen Weltanschauung, die in der anti-
thomistischen Literatur immer wieder eine Rolle spielen und vor
allem von den großen Franziskanern aufgenommen werden: haupt-
sächlich die antiintellektualistische Behauptung des Willens-
primates und die starke Betonung der Schrankenlosigkeit des gött-
lichen Willens. Gegenüber der aristotelischen Physik, wie sie Albert
und Thomas im wesentlichen vertreten, bedeutete das die Ableh-
nung einiger entscheidender Grundzüge antiker Weltbetrachtung:
die Begrenztheit des Universums und seine geozentrische Einmalig-
keit war mit der Unendlichkeit des göttlichen Schöpferwillens, die
Ewigkeit der Materie mit der zeitlich bestimmten Weltschöpfung
schwer in Einklang zu bringen. Heinrich von Gent selbst behaup-
tete die Möglichkeit, daß Gott mehrere Welten schaffen könne;
in der Fortsetzung dieses Gedankens eröffnete sich den Pariser
Naturforschern der Ausblick auf neue Weltsysteme, die nicht mehr
geozentrisch orientiert waren. Das Problem des Unendlichen wurde
zum Lieblingsgegenstand scharfsinniger Überlegungen der termini-
stischen Logiker; die radikalsten unter ihnen verfochten die Fähig-
keit des Schöpfers, auch das Unendliche zu realisieren. Und mit
dieser Durchbrechung der aristotelischen Autorität ergab sich — so
glaubt Duhem bewiesen zu haben — die Möglichkeit zu weiteren
Fortschritten über die antike und arabische Naturwissenschaft
hinaus. Was in diesen Gegensätzen zutage tritt, wäre also letzten
1 S. d. Zusammenstellung bei Überweg-Baumgartner II10, 409/10,
ferner 509/11.
2 Die Bedeutung dieser Artikel erhellt u. a. daraus, daß sie den meisten
Ausgaben des Petrus Lombardus als Anhang beigegeben wurden. S. Prantl
III, 184, N. 10. Eine Revision erfolgte 1323: Stöckl II, 779/80.
Gerhard Ritter:
den Theologen der Universität 219 Sätze der peripatetisch-averro-
istischen Lehre als ketzerisch verdammte. Ähnliche Verbote waren
ohne Erfolg im XIII. Jahrhundert schon mehrfach ergangen1;
diesmal richtete sich das Verdammungsurteil insbesondere gegen
zahlreiche Sätze des Averroisten Siger von Brabant und gegen
einzelne Lehren des Thomas von Aquino, wodurch die Angelegen-
heit zu einer Streitfrage größten Stiles unter den philosophischen
Parteien wurde2 * *. Erweist sich die These von der einflußreichen
Mitwirkung des Heinrich von Gent bei der Aufstellung der „Pariser
Artikel“, die Duhem wahrscheinlich macht, als haltbar, so eröffnet
sich eine historische Perspektive von großer Reichweite.
Heinrich von Gent vertritt als Gegner des Thomas gewisse
Motive der augustinischen Weltanschauung, die in der anti-
thomistischen Literatur immer wieder eine Rolle spielen und vor
allem von den großen Franziskanern aufgenommen werden: haupt-
sächlich die antiintellektualistische Behauptung des Willens-
primates und die starke Betonung der Schrankenlosigkeit des gött-
lichen Willens. Gegenüber der aristotelischen Physik, wie sie Albert
und Thomas im wesentlichen vertreten, bedeutete das die Ableh-
nung einiger entscheidender Grundzüge antiker Weltbetrachtung:
die Begrenztheit des Universums und seine geozentrische Einmalig-
keit war mit der Unendlichkeit des göttlichen Schöpferwillens, die
Ewigkeit der Materie mit der zeitlich bestimmten Weltschöpfung
schwer in Einklang zu bringen. Heinrich von Gent selbst behaup-
tete die Möglichkeit, daß Gott mehrere Welten schaffen könne;
in der Fortsetzung dieses Gedankens eröffnete sich den Pariser
Naturforschern der Ausblick auf neue Weltsysteme, die nicht mehr
geozentrisch orientiert waren. Das Problem des Unendlichen wurde
zum Lieblingsgegenstand scharfsinniger Überlegungen der termini-
stischen Logiker; die radikalsten unter ihnen verfochten die Fähig-
keit des Schöpfers, auch das Unendliche zu realisieren. Und mit
dieser Durchbrechung der aristotelischen Autorität ergab sich — so
glaubt Duhem bewiesen zu haben — die Möglichkeit zu weiteren
Fortschritten über die antike und arabische Naturwissenschaft
hinaus. Was in diesen Gegensätzen zutage tritt, wäre also letzten
1 S. d. Zusammenstellung bei Überweg-Baumgartner II10, 409/10,
ferner 509/11.
2 Die Bedeutung dieser Artikel erhellt u. a. daraus, daß sie den meisten
Ausgaben des Petrus Lombardus als Anhang beigegeben wurden. S. Prantl
III, 184, N. 10. Eine Revision erfolgte 1323: Stöckl II, 779/80.