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Studien zur Spätscholastik. I.

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Endes nichts anderes als die polare Spannung zwischen heidnisch-
antikem und christlich-abendländischem Denken, an deren Über-
windung in gewissem Sinne das ganze Mittelalter gearbeitet hat,
die aber immer wieder, und meist unter dem Wahrzeichen Augu-
stins, hervorgebrochen ist. Bliebe nicht trotz aller solcher Span-
nungen endgültig die Kontinuität der wissenschaftlichen Entwick-
lung gewahrt und lägen nicht die Zusammenhänge im einzelnen
viel zu kompliziert, als daß sie sich in einfache Gegensatzpaare
auflösen ließen, so könnte man versucht sein, das moderne Schlag-
wort von der ,,antiken“ und der „faustischen Seele“ hier anzu-
wenden, die in dem Kontrast der endlichen und der unendlichen
Weltvorstellung sich voneinander abheben1.
Ohne uns in derartige Allgemeinheiten zu verlieren, haben
wir hier zunächst zu ermitteln, ob und inwieweit auch bei Marsilius
von Inghen von einer Durchbrechung des aristotelischen Welt-
bildes die Rede sein kann. Darf er doch als der letzte namhafte
Physiker des Pariser Kreises gelten.
Die articuli Parisienses spielen in der Tat in seinen Schriften
eine große Rolle; vor allem da werden sie als unbedingte Autorität
zitiert, wo die Unendlichkeit der göttlichen Allmacht in Frage
steht2. Indessen kann nicht die Rede davon sein, daß sich etwa
Marsilius bewußt wäre, grundsätzlich den Rahmen der aristote-
lischen Weltbetrachtung zu verlassen. Sein ängstliches Bemühen,
die Übereinstimmung mit Aristoteles stets festzuhalten, beweist das
Gegenteil. Sobald freilich Glaubensinteressen in Frage kommen,
scheut er sich nicht, die „natürliche“ Erkenntnis des Philosophen
deutlich in Gegensatz zu der offenbarten Wahrheit des Glaubens
zu stellen — darin ein echter Schüler Okkams3. Aber das gilt ihm
1 Osw. Spengler, Untergang des Abendlandes I4, cap. 1 hat sich die
Bestätigung seiner Theorie durch Dühem — wie er sie auffassen würde -
entgehen lassen. Er scheint nur die Anfänge der analytischen Geometrie bei
Nik. v. Oresme und die Vorläufer der Infinitesimalrechnung bei Nik. Cusanus
zu kennen (l.c. 105, 103) — vermutlich aus Moritz Cantors Vorlesungen über
Geschichte der Mathematik.
2 Z. B. Druck nr. 13 (abbrev. 1. phys.) Bl. 17, d; Bl. 64v; Druck nr. 15
(Sentenzenkommentar) Bl. 212v, 274v, 276, d, 284, a.
3 Beispiele: abbrev. phys., Druck nr. 13, Bl. 7, b (Schöpfungsakt aus
dem Nichts); ibid. Bl. 16, b: (Gott kann ohne intermediäre Ursachen wirken);
ibid. Bl. 33, d (vacuum); Bl. 62, b (unendliche Dauer des Geschaffenen); de
gen. et corr., 1. II, qu. 18 (eigentlich 19): Ewigkeit der aristot. Materie, Kreis-
lauf der Formen der generatio und Auferstehungslehre. Vgl. ferner die spätere
Einzelerörterung im Text.
 
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