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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0151
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Studien zur Spätscholastik. I.

151

lieh die biblische Autorität in den Vordergrund stellt, als wenn er
daneben mit Selbstverständlichkeit die ganze kirchliche Über-
lieferung bis zu den Heiligenleben, Konzilsbeschlüssen und Dekre-
talien als Glaubensobjekte betrachtet und die Unterwerfung des
Gläubigen unter die kanonische Meinung der Kirche gar nicht oft
genug fordern kann1. Diese ängstliche Kirchlichkeit ist allen theolo-
gischen Richtungen der Zeit mehr oder weniger gemeinsam. Okkam
selbst und seine getreuesten Schüler verwandten nur gelegentlich
die biblische Autorität zur Kritik der Kirche, und grundsätzlich
nicht in Glaubensdingen. Noch ist der Subjektivismus des sich
vom Herkommen emanzipierenden Denkens nicht bis in die inner-
sten Heiligtümer der Kirche vorgedrungen. Wenigstens nicht auf
den Lehrstühlen der Universitäten.
Psychologischer Exkurs: Die Willenslehre.
Bis zu diesem Punkte erscheint die Theologie des Marsilius
von Inghen wesentlich durch spekulative Motive bestimmt. Der
aristotelische Intellektualismus treibt zu einer ähnlichen Lösung
der methodologischen Probleme, wie schon bei Thomas. Die Ant-
wort auf die Frage nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen,
die Bestimmung der enzyklopädischen Stellung und der speziellen
Aufgaben des theologischen Wissens, die Definition des Glaubens
— alles das weist mehr auf eine rationale als auf eine praktische
Ausdeutung der religiösen Lebensinhalte hin. Wenn die unspeku-
lative Theologie Okkams (und ähnlich schon die des Duns) in
ihren letzten Bestimmungen von der Irrationalität des ethisch-
religiösen Gutes, von der reinen Kontingenz des göttlichen Willens
ausging, so könnte man von Marsilius eher erwarten, er werde die
rationale Begründung der ethischen Norm, die perseitas boni und
eine durchgehende Bestimmung des göttlichen Willens durch die
höchste Vernunft verfechten.
Indessen je mehr wir uns den ethisch-religiösen Kernsätzen
der Theologie, der Lehre von Gnade und Erlösung nähern, um so
1 lib. sent. I, qu. 2, art. 2, ad. 3. not., Bl. 11, d. — Ergänzend sei hier
angefügt, daß die Lehre des M. v. I. von der fides explicita et implicita (lib.
sent. III, qu. 14, art. 3, co. 1 — 5, Bl. 455/6) im ganzen etwa thomistische Züge
trägt, aber nichts ungewöhnliches bietet. Interessant sind in diesem Zusammen-
hang Sätze wie der auf Bl. 453 v, daß man den einfachen Laien gegenüber
gewisse theologische Zweifel (z. B. ob das jüngste Gericht notwendig oder
kontingent sei) verschweigen müsse, um sie nicht innerlich unsicher zu machen.
 
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