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Gerhard Ritter:
dieren1. Wie ist das möglich? An dieser entscheidenden Stelle der
ganzen Argumentation tritt der Charakter der Freiheit als sitt-
licher Freiheit auf das deutlichste heraus. Ich kann nur dann von
dem Gegenstand meines Wohlgefallens mich abkehren, wenn irgend
eine malicia damit verbunden ist von gleichstarkem Gewicht, sodaß
der Wille sich zwei konträren, sich wechselseitig aufhebenden
Kräften der Anziehung und Abstoßung gegenübersieht2. Die
psychologische Mechanik, diese historisch so wirksame Theorie,
der wir bereits in der Erkenntnislehre begegneten, wird hier beson-
ders deutlich. Die sittliche Freiheit ist nur dann gesichert, wenn
die sittlichen Motive ebensostark in der Seele des Menschen sind,
wie die Anreize der Versuchung.
Aber damit ist nur ein neutrales Verhalten, noch kein sitt-
liches Handeln ermöglicht. In der Tat besitzt der Mensch noch
eine weitere Freiheit : er kann den aufgeschobenen Entschluß, ist
einmal der erste Anreiz durch das Gegengewicht der sittlichen
malicia aufgehoben, nach seinem Willen zum Guten lenken, indem
er dem Verstände eine neue und gründlichere Überlegung aufgibt3 4.
Erst dann, wenn diese Revision zum Ziele führt und nunmehr
das wahrhaft Gute sub ratione boni bezw. das sittlich Verwerfliche
sub ratione mali vorgestellt wird, kann die endgültige Entscheidung
erfolgen. Damit ist der sittliche Entschluß vollendet.
Der Rückblick auf diese Genese des sittlichen Wollens1 zeigt,
daß weder eine (sinnliche) Begehrung noch eine (intellektive) Wol-
lung entstehen kann ohne vorausgehende cognitio des begehrten
Gegenstandes. Im ersten Falle ist sie gegeben durch den sinnlichen
Eindruck, im zweiten durch die inkomplexe Vorstellung bezw. die
rationale Überlegung. An und für sich betrachtet sind die reinen
Begehrungen und Wollungen (appetitus) immer ,,blind“ und be-
dürfen der näheren Bestimmung durch die Einsicht. Somit erweist
sich die Gewalt der Vorstellungen über den Willen als sehr bedeu-
tend, und es entsteht die Frage, ob nach alledem überhaupt noch
von Willensfreiheit im strengen Sinn die Rede sein kann. Zur
Antwort erhalten wir noch einmal eine genaue Definition dieses
Begriffes5. Die Freiheit unseres Willens besteht weder darin,
1 Qu. 16, art. 2, Bl. 276, d. 2 ibid. art. 4, Bl. 279ff.
3 ibid. Bl. 280, a. M. v. I. betrachtet diese Ansicht als die allein kirch-
lich korrekte und verteidigt sie mit großer Lebhaftigkeit; er spricht aber selbst
aus, daß eine restlose Lösung des Problems der Freiheit über seine Kräfte geht.
4 Qu. 16, art. 5, Bl. 281 ff. 5 Bl. 285b —c, concl.. 1—10.
Gerhard Ritter:
dieren1. Wie ist das möglich? An dieser entscheidenden Stelle der
ganzen Argumentation tritt der Charakter der Freiheit als sitt-
licher Freiheit auf das deutlichste heraus. Ich kann nur dann von
dem Gegenstand meines Wohlgefallens mich abkehren, wenn irgend
eine malicia damit verbunden ist von gleichstarkem Gewicht, sodaß
der Wille sich zwei konträren, sich wechselseitig aufhebenden
Kräften der Anziehung und Abstoßung gegenübersieht2. Die
psychologische Mechanik, diese historisch so wirksame Theorie,
der wir bereits in der Erkenntnislehre begegneten, wird hier beson-
ders deutlich. Die sittliche Freiheit ist nur dann gesichert, wenn
die sittlichen Motive ebensostark in der Seele des Menschen sind,
wie die Anreize der Versuchung.
Aber damit ist nur ein neutrales Verhalten, noch kein sitt-
liches Handeln ermöglicht. In der Tat besitzt der Mensch noch
eine weitere Freiheit : er kann den aufgeschobenen Entschluß, ist
einmal der erste Anreiz durch das Gegengewicht der sittlichen
malicia aufgehoben, nach seinem Willen zum Guten lenken, indem
er dem Verstände eine neue und gründlichere Überlegung aufgibt3 4.
Erst dann, wenn diese Revision zum Ziele führt und nunmehr
das wahrhaft Gute sub ratione boni bezw. das sittlich Verwerfliche
sub ratione mali vorgestellt wird, kann die endgültige Entscheidung
erfolgen. Damit ist der sittliche Entschluß vollendet.
Der Rückblick auf diese Genese des sittlichen Wollens1 zeigt,
daß weder eine (sinnliche) Begehrung noch eine (intellektive) Wol-
lung entstehen kann ohne vorausgehende cognitio des begehrten
Gegenstandes. Im ersten Falle ist sie gegeben durch den sinnlichen
Eindruck, im zweiten durch die inkomplexe Vorstellung bezw. die
rationale Überlegung. An und für sich betrachtet sind die reinen
Begehrungen und Wollungen (appetitus) immer ,,blind“ und be-
dürfen der näheren Bestimmung durch die Einsicht. Somit erweist
sich die Gewalt der Vorstellungen über den Willen als sehr bedeu-
tend, und es entsteht die Frage, ob nach alledem überhaupt noch
von Willensfreiheit im strengen Sinn die Rede sein kann. Zur
Antwort erhalten wir noch einmal eine genaue Definition dieses
Begriffes5. Die Freiheit unseres Willens besteht weder darin,
1 Qu. 16, art. 2, Bl. 276, d. 2 ibid. art. 4, Bl. 279ff.
3 ibid. Bl. 280, a. M. v. I. betrachtet diese Ansicht als die allein kirch-
lich korrekte und verteidigt sie mit großer Lebhaftigkeit; er spricht aber selbst
aus, daß eine restlose Lösung des Problems der Freiheit über seine Kräfte geht.
4 Qu. 16, art. 5, Bl. 281 ff. 5 Bl. 285b —c, concl.. 1—10.