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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0162
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162

Gerhard Ritter:

ausweichen kann1. Inwiefern eine begrenzte oder teilweise Frei-
heit der „zweiten Akte“, der Vorstellungsverbindungen, möglich
sein soll, wird nicht weiter ausgeführt; vielleicht dachte Marsilius
an die lockere Form des Urteilens in der Bildung von Meinungen,
Vermutungen u. dgl. Doch ist er grundsätzlich geneigt, innerhalb
des gesamten Abstraktions- und Urteilsprozesses zwangsläufige
Zusammenhänge vorauszusetzen, die uns freilich nicht immer
erkennbar seien. Oft nehmen wir eine freie Urteilstätigkeit an,
wo inWahrheit die bedingende Ursache in Denkgewohnheiten, dem
natürlich-geheimnisvollen influxus celi, unverstandenen persön-
lichen Wesenseigentümlichkeiten (habitus) oder anderen Partikular-
motiven verborgen liegt. So erscheint jeder einzelne Denkakt, je
nach Ort und Zeit verschieden, durch das Zusammenwirken un-
zähliger versteckter Teilmotive bestimmt2. Das sind überraschend
modern anmutende Betrachtungen. Sie bestätigen uns zugleich,
was die Erkenntnislehre schon vermuten ließ (s. o. S.60 f.): daß
Marsilius eine Mitwirkung des Willens im Erkenntnisakte aus-
drücklich ablehnt3. Zwar treibt der Wille den Verstand zur Denk-
tätigkeit überhaupt oder zur Bildung eines einzelnen Syllogismus
als solchen an, aber niemals mischt er sich in den Zusammenhang
dieser Tätigkeit selber ein, und oft geschieht es, daß der Intellekt
ganz ohne unsern Willen, ja wider unsere Absicht spekuliert. Wie
1 ibid. concl. 5, Bl. 331, b.
2 ibid. Bl. 332, a, ad confirm.: Intelleclus determinatur potius ad unarn
figuram, quam ad aliam, non quod liber est libertate oppositionis, nec etiam
oportet quod ex v oluntate, sed potius ex aliqua causa particulari concur-
rente, que potest esse concursus phantasmatum potius actus ad unam figuram
quam ad aliam; cuius concursus potest esse causa influxus celi, vel consuetudo sic
syllogisandi vel habitus promptificans plus ad unam- figuram quam ad aliam et
infinita alia particularia, que huismodi singularis actus pro loco et tempore
possunt esse cause, que impossibile est sermonibus explicari.
3 ibid. Bl. 332, b: Habitus speculativi et practici dirigunt immediate Intel-
lectum ad agendum et non voluntas [so statt: voluntatem] et sic non est
voluntas eorum dominus. — Siebeck umschreibt die Meinung des M. v. I.
p. 207: „Schon als erkennend ist die Seele auch begehrend oder ablehnend;
jeder Akt des Intellekts ist zugleich ein Akt des Willens und umgekehrt.“
In der Tat kommen ähnliche Sätze bei M. v. I. vor. Sie sollen aber in ihrem
Zusammenhang nicht mehr ausdrücken, als die Einheit der Seelensubstanz.
Keinesfalls darf daraus etwa eine Beeinflussung des Erkenntnisvorganges
durch den Willen im Sinne des Duns gefolgert werden. Vgl. auch oben p. 157,
N. 1. Sehr hübsch bezeichnet M. v. I. Bl. 335, d (in fine) das Verhältnis des
Verstandes zum Willen folgendermaßen: Intellectus ostendit agenda per modum
consulis suadentis bonum, non per modum imperantis.
 
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