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Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

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https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0172
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172

Gerhard Ritter:

des Menschen um Erleuchtung seines Glaubens und Reinigung *
seines Willens voraussetzte. Gott wird dem, der tut, was in seinen
Kräften steht, die Gnade nicht versagen. Freilich konnte schon
dieses Bemühen nicht ohne spezielle Hilfe Gottes (gratia gratis
data), vor allem bestehend in der Einwirkung seines Wortes, zum
Ziele führen. Dennoch wurde diese Annahme zum Ausgangspunkt
jener Kontroverse um semipelagianische Formeln, die für die
dogmengeschichtliche Beurteilung der lutherischen Neuerung die
größte Bedeutung besitzt. Während Thomas, in strenger Ver-
tretung der Alleinwirksamkeit der Gnade, schon in dem vorberei-
tenden Stadium des Heilsweges die selbständige Mitwirkung des
Will ens ausschloß, trieb die Ausgestaltung der psychologischen
Arbeit am Begriff der Willensfreiheit bei den Franziskanern Duns
und Okkam dahin, daß die gratia gratis data gänzlich fiel. Aus
natürlichen Kräften vermag der Mensch sich auf den Empfang
der Gnade vorzubereiten und sich in solchem Handeln gewisse,
wenn auch nicht zureichende (de condigno), so doch die Hoffnung
auf Belohnung immerhin begründende (de congruo) Verdienste zu
erwerben. Das war die Lehre, an der Luthers religiöser Ernst
so argen Anstoß nahm.
In der Lehre des Marsilius finden wir die gratia gratis data
wieder hergestellt. Es ist ein recht vieldeutiger Begriff, der im
ganzen weniger die Berufung durch das Wort als eine Reihe von
halb natürlichen, halb geistlichen Gaben Gottes zu umfassen
scheint, die nur teilweise zur Vorbereitung des Christen auf den
Gnadenempfang dienen. Die wichtigste dieser Gaben ist die fides
informis, die ja, wie wir gesehen haben (S. 147), nicht ohne beson-
dere Gnadenwirkung zu erlangen ist1. Was nötigt aber zur Annahme
dieser zweiten Gnadenwirkung Gottes neben der rechtfertigenden
Gnade ?
Sie ist zunächst streng zu unterscheiden von der,,allgemeinen“
Mitwirkung Gottes als prima ausa, die in allen geschöpflichen
Dingen sich geltend macht, durch Vermittlung der „zweiten Ur-
sachen“, der Himmelskörper, in den körperlichen Dingen, ohne
Vermittlung in den geistigen Substanzen. Diese influentia generalis
gehört der rein natürlichen Lebenssphäre an; wir sind ihr bereits
1 1. II, qu. 17, art. 1, Bl. 289, d: Gratia gratis data . . . est bonum additum
nature per Deiun, quo tarnen posito non oportet esse deo gratum, sicut fides informis,
vel spes scientie, donum prophetie, eloquentie et virtutes morales, immo et bona
utilia exteriora!
 
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