Metadaten

Ritter, Gerhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Hrsg.]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1921, 4. Abhandlung): Studien zur Spätscholastik, 1: Marsilius von Inghen und die okkamistische Schule in Deutschland — Heidelberg, 1921

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.37794#0174
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
174

Gerha.ro Ritter:

Willensregung möglich. Allerdings ist der Kreis dessen, was alles
unter die gratia gratis data fallen soll, so weit gespannt, daß ihr
Wesen kaum noch zu bestimmen ist. Marsilius legt auch anschei-
nend kein großes Gewicht auf ihre Verwandtschaft mit der eigent-
lichen Gnade1. Aber soviel ist doch zu erkennen: auch der Umkreis
der scheinbar natürlichen Sittlichkeit soll als Wirkung Gottes be-
zeichnet werden.
Doch betrachten wir das Zusammenwirken des menschlichen
Willens mit der Gnade Gottes noch etwas genauer! Mit stärkstem
Nachdruck wird betont, daß der Mensch seit Adams Fall ohne die
eingegossene Gnade nicht imstande ist, auch nur eine Zeitlang
Gottes Gebote nicht zu übertreten. Soweit keine gratia gratis data
im Spiel ist, mag er zwar eine Zeitlang direkte Verstöße gegen die
Verbote der zweiten Tafel vermeiden können; aber zur Erfüllung
der positiven Vorschriften des Gesetzes im Sinne des Gesetzgebers
ist er ebensowenig imstande, wie zu längerem Beharren im Ge-
horsam gegen die Verbote2. Schon der bloße Mangel an Reue und
Buße nach begangener Todsünde ist eine Fortsetzung dieser Sünde,
wenn nicht eine besondere Hilfe Gottes den Sünder auf den rechten
Weg bringt. Der Wirkungskreis der natürlichen Sittlichkeit ist also
auf das äußerste beschränkt. Aus eigener Kraft vermögen wir
Gottes Gesetz, das Gesetz des alten Bundes nicht zu erfüllen. Aber
auch die „umsonst verliehene Gnade“ hilft noch nicht viel weiter.
Zwar reicht sie unter Umständen hin (wir hörten es schon) zur Er-
füllung einiger positiver Vorschriften Gottes, wie des Gebotes der
Gottes- und Nächstenliebe, und es ist nicht zu leugnen, daß vielen der
heidnischen Philosophen dies in ihrer Art gelungen ist. Die schroffe
Strenge Augustins, der diese Leistungen der Unchristen (angesichts
der blasierten Tugendphilosophie der Spätantike!) als „glänzende
Laster“ brandmarkte, ist also immerhin gemildert. Aber wie gering
ist die Kraft dieser anfänglichen Sittlichkeit, solange nicht das
Bußsakrament eine gründliche Säuberung der Seele bewirkt hat!
Jede einmal begangene und nicht durch Buße ausgetriebene Sünde
verschlimmert den Zustand des Willens und treibt unfehlbar zu
neuer Sünde, wenn Gott nicht abermals eingreift. Wir kennen die
Schilderung dieses Zustandes aus der Psychologie des Willens.
1 Bl. 289, d: de his Omnibus [sc. Inhalt der gratia gratuita] non est ad
presens. Vgl. vor allem die schwankende Bestimmung des Inhalts und der
Bezeichnung.
2 Qu. 18, a. 2, Bl. 298a —b.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften