Der Kampf des geistlichen und weltlichen Rechts.
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druck und Geschick geschehen ist, und wir uns heute auf einer Stufe
befinden, die über die Richtung des Pendels keinen Zweifel mehr
zuläßt. Man wird es als konsequent, aber sicher nicht als geschickt
bezeichnen müssen, wenn Pius IX. in der Spur Leos XII., der 1824
den ,,tollerantismus seu indifferentismus“ verurteilte, und Gre-
gors XVI., der 1832 in kräftigerer Tonart die Gewissensfreiheit als
,,Wahnsinn aus stinkendster Quelle“ definierte1, dem Rad der
Geschichte überhaupt in die Speichen griff und im Syllabus von
1864 über die ganze moderne Entwicklung als eine ungeheure
Summe grundlegender Irrtümer aburteilte2. Durch den abschlie-
ßenden 80. Satz, der es für unmöglich erklärte, daß der Papst sich
„mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der neuen Staats-
auffassung aussöhnen könne“, nahm er sich selbst den Gegenwarts-
wert und verstellte sich den Weg in die Zukunft. Es klang auch
nur wie ein Nachhall früherer Zeiten, wenn er die alte weltliche
Gewalt, die temporalis potestas der geistlichen Rechtskirche in
Anspruch nahm. Aber es traf durchaus die Sache und das, was in
der Wirklichkeit sich zur Anerkennung bringen ließ, wenn er es
ablehnte, „den Staat als Ursprung und Quelle aller Rechte“ gelten
zu lassen und ihm jeden Eingriff ins kirchliche Gebiet verwehrte3.
Das war alles noch negativ, Abwehr. Das Vaticanum von 1870 ist
innerer positiver Aufbau: das definitive Ende der innerkatholischen
Spannung zwischen kurialem und konziliarem Prinzip, also der
immer noch fortschleichenden Rechtsunsicherheit4 durch die
1 Enzyklika Ubi primum v. 5. V. 1824: Secta quaedam — blandam
pietatis et liberalitatis speciem prae se ferens tollerantismum (sic enim aiunt)
seu indifferentismum profitetur — non modo in rebus civilibus — verum etiam
in religionis negotio docens amplam unicuique libertatem a Deo factam esse. —
Encyklika Mirari vos v. 15. VIII. 1832: Atque ex hoc putidissimo indifferentismi
fonte absurda illa fluit ac erronea sententia seu potius deliramentum, asserendam
esse ac vindicandam cuiuslibet libertatem conscientiae (bei Mirbt S. 434, 439).
2 Acta Pii IX. III, 701 ff., Mirbt S. 450ff. Unter den errores qui ad
liberalismum hodiernum referuntur als letzter: Rom. pont. potest ac debet cum
progressu, cum liberalismo et cum recenti civilitate sese reconciliare et componere.
3 Error 39: Reipublicae Status utpote omnium iurium origo et fons iure
quodam pollet nullis circumscripto limitibus. — Zur Verwerfung des error 24:
Ecclesia vis inferendae potestatem non habet neque potestatem ullam temporalem
directam vel indirectam, vgl. die verklausulierten Äußerungen Sägmüllers,
KR.4, S. 9, 54ff. (1927).
4 Was Hauck V, 809 von Augustinus Triumfus sagt, daß seine Voraus-
setzung der Fehlsamkeit des Papstes in Glaubenssachen „rechtlich unanfecht-
bar“ durch Decr. Grat. I D 40 c. 6 u. a. zu belegen gewesen sei, galt bis 1870.
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druck und Geschick geschehen ist, und wir uns heute auf einer Stufe
befinden, die über die Richtung des Pendels keinen Zweifel mehr
zuläßt. Man wird es als konsequent, aber sicher nicht als geschickt
bezeichnen müssen, wenn Pius IX. in der Spur Leos XII., der 1824
den ,,tollerantismus seu indifferentismus“ verurteilte, und Gre-
gors XVI., der 1832 in kräftigerer Tonart die Gewissensfreiheit als
,,Wahnsinn aus stinkendster Quelle“ definierte1, dem Rad der
Geschichte überhaupt in die Speichen griff und im Syllabus von
1864 über die ganze moderne Entwicklung als eine ungeheure
Summe grundlegender Irrtümer aburteilte2. Durch den abschlie-
ßenden 80. Satz, der es für unmöglich erklärte, daß der Papst sich
„mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der neuen Staats-
auffassung aussöhnen könne“, nahm er sich selbst den Gegenwarts-
wert und verstellte sich den Weg in die Zukunft. Es klang auch
nur wie ein Nachhall früherer Zeiten, wenn er die alte weltliche
Gewalt, die temporalis potestas der geistlichen Rechtskirche in
Anspruch nahm. Aber es traf durchaus die Sache und das, was in
der Wirklichkeit sich zur Anerkennung bringen ließ, wenn er es
ablehnte, „den Staat als Ursprung und Quelle aller Rechte“ gelten
zu lassen und ihm jeden Eingriff ins kirchliche Gebiet verwehrte3.
Das war alles noch negativ, Abwehr. Das Vaticanum von 1870 ist
innerer positiver Aufbau: das definitive Ende der innerkatholischen
Spannung zwischen kurialem und konziliarem Prinzip, also der
immer noch fortschleichenden Rechtsunsicherheit4 durch die
1 Enzyklika Ubi primum v. 5. V. 1824: Secta quaedam — blandam
pietatis et liberalitatis speciem prae se ferens tollerantismum (sic enim aiunt)
seu indifferentismum profitetur — non modo in rebus civilibus — verum etiam
in religionis negotio docens amplam unicuique libertatem a Deo factam esse. —
Encyklika Mirari vos v. 15. VIII. 1832: Atque ex hoc putidissimo indifferentismi
fonte absurda illa fluit ac erronea sententia seu potius deliramentum, asserendam
esse ac vindicandam cuiuslibet libertatem conscientiae (bei Mirbt S. 434, 439).
2 Acta Pii IX. III, 701 ff., Mirbt S. 450ff. Unter den errores qui ad
liberalismum hodiernum referuntur als letzter: Rom. pont. potest ac debet cum
progressu, cum liberalismo et cum recenti civilitate sese reconciliare et componere.
3 Error 39: Reipublicae Status utpote omnium iurium origo et fons iure
quodam pollet nullis circumscripto limitibus. — Zur Verwerfung des error 24:
Ecclesia vis inferendae potestatem non habet neque potestatem ullam temporalem
directam vel indirectam, vgl. die verklausulierten Äußerungen Sägmüllers,
KR.4, S. 9, 54ff. (1927).
4 Was Hauck V, 809 von Augustinus Triumfus sagt, daß seine Voraus-
setzung der Fehlsamkeit des Papstes in Glaubenssachen „rechtlich unanfecht-
bar“ durch Decr. Grat. I D 40 c. 6 u. a. zu belegen gewesen sei, galt bis 1870.