Studien zur Spätscholastik. III.
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Wesel freilich wagte er nicht in beifälligem Sinn zu glossieren; als
Ersatz dafür mußten die Vorrede und das Nachwort dienen, die
wir soeben Konrad Hensel zugeschrieben haben.
Etwa derselben Umgebung und Tendenz entsprach 13 Jahre
später der Fasciculus rerum expetendarum et fugiendarum des
Ortuinus Gratius (1535) — bekanntlich in seinem Hauptteil ein
einfacher Wiederabdruck jenes älteren Sammelwerkes, freilich ver-
mehrt um viele neue Stücke und mit gewissen Milderungen und
Auslassungen im Text und den Randnoten der Vorlage. Das Ziel
dieser Neuausgabe ist im Vorwort deutlich bezeichnet: ein Reform-
konzil muß in allernächster Zeit für die Erneuerung der Kirche
sorgen, wenn sie vom Untergang bewahrt bleiben will. Reform-
wünsche aus älterer und neuerer Zeit, berechtigte und verdammens-
werte, sind gewissermaßen als Material künftiger Beratungen hier
bereitgestellt. Es waren die Jahre, in denen das ganze katholische
Deutschland mit Karl V. die Berufung der großen ökumenischen
Synode brennend ersehnte: eben erst hatte die Thronbesteigung
Pauls III. diese Hoffnungen neu belebt, und 1536 hielt Hermann
von Wied, Erzbischof zu Köln, seine große Reformsynode ab, die
den praktischen Anfang mit der inneren Erneuerung der deutschen
katholischen Kirche machen sollte. Aber die Gegensätze zwischen
protestantischer und katholischer Reformgesinnung hatten sich
seit 1521 gewaltig verschärft. Mit der naiven Kühnheit, wie ehe-
dem, durfte man seine Beschwerden in katholischem Lande jetzt
nicht mehr hinausschreien; sehr sorgsam scheidet Ortwinus im
Nachwort, was als verwerfliche Ketzerei, was als billiger Reform-
wunsch zu gelten habe. Einzelvorreden zu den verschiedenen
Stücken sichern den Herausgeber noch besonders vor dem Verdacht
ketzerischer Neigungen. Und so erhält Wesels Prozeß eine scharf
kritische neue Vorrede1 — ohne daß jenes beifällige ältere Nach-
wort deshalb unterdrückt würde! Sehr unglücklich ist freilich die
Art, wie Ortwin Gratius Wesels Häresie erklären will: ähnlich wie
im Reuchlinstreit ist er einem jüdischen Proselyten ins Garn ge-
laufen und wiederholt dessen Märchen, die Wormser Juden hätten
den Domprediger zum Ketzer gemacht.
Es versteht sich, daß auch die protestantische Kirchen-
geschichtschreibung den Wormser Ketzer bald unter ihre „Wahr-
heitszeugen“ aufnahm; aber viel wußte sie — wie begreiflich —
1 Im Nachwort des ganzen Werkes rückt O. G. noch einmal von Wesel,
den er als kindisch gewordenen, hinfälligen Greis darstellt, nachdrücklich ab.
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Wesel freilich wagte er nicht in beifälligem Sinn zu glossieren; als
Ersatz dafür mußten die Vorrede und das Nachwort dienen, die
wir soeben Konrad Hensel zugeschrieben haben.
Etwa derselben Umgebung und Tendenz entsprach 13 Jahre
später der Fasciculus rerum expetendarum et fugiendarum des
Ortuinus Gratius (1535) — bekanntlich in seinem Hauptteil ein
einfacher Wiederabdruck jenes älteren Sammelwerkes, freilich ver-
mehrt um viele neue Stücke und mit gewissen Milderungen und
Auslassungen im Text und den Randnoten der Vorlage. Das Ziel
dieser Neuausgabe ist im Vorwort deutlich bezeichnet: ein Reform-
konzil muß in allernächster Zeit für die Erneuerung der Kirche
sorgen, wenn sie vom Untergang bewahrt bleiben will. Reform-
wünsche aus älterer und neuerer Zeit, berechtigte und verdammens-
werte, sind gewissermaßen als Material künftiger Beratungen hier
bereitgestellt. Es waren die Jahre, in denen das ganze katholische
Deutschland mit Karl V. die Berufung der großen ökumenischen
Synode brennend ersehnte: eben erst hatte die Thronbesteigung
Pauls III. diese Hoffnungen neu belebt, und 1536 hielt Hermann
von Wied, Erzbischof zu Köln, seine große Reformsynode ab, die
den praktischen Anfang mit der inneren Erneuerung der deutschen
katholischen Kirche machen sollte. Aber die Gegensätze zwischen
protestantischer und katholischer Reformgesinnung hatten sich
seit 1521 gewaltig verschärft. Mit der naiven Kühnheit, wie ehe-
dem, durfte man seine Beschwerden in katholischem Lande jetzt
nicht mehr hinausschreien; sehr sorgsam scheidet Ortwinus im
Nachwort, was als verwerfliche Ketzerei, was als billiger Reform-
wunsch zu gelten habe. Einzelvorreden zu den verschiedenen
Stücken sichern den Herausgeber noch besonders vor dem Verdacht
ketzerischer Neigungen. Und so erhält Wesels Prozeß eine scharf
kritische neue Vorrede1 — ohne daß jenes beifällige ältere Nach-
wort deshalb unterdrückt würde! Sehr unglücklich ist freilich die
Art, wie Ortwin Gratius Wesels Häresie erklären will: ähnlich wie
im Reuchlinstreit ist er einem jüdischen Proselyten ins Garn ge-
laufen und wiederholt dessen Märchen, die Wormser Juden hätten
den Domprediger zum Ketzer gemacht.
Es versteht sich, daß auch die protestantische Kirchen-
geschichtschreibung den Wormser Ketzer bald unter ihre „Wahr-
heitszeugen“ aufnahm; aber viel wußte sie — wie begreiflich —
1 Im Nachwort des ganzen Werkes rückt O. G. noch einmal von Wesel,
den er als kindisch gewordenen, hinfälligen Greis darstellt, nachdrücklich ab.