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Gerhard Ritter:
mit ihm nicht anzufangen. Der Ablaßtraktat, den Flacius kannte,
hatte doch mit den lutherischen Thesen kaum etwas anderes ge-
meinsam, als rein äußerlich die Verwerfung der Indulgenzen als
solche. Und aus dem wirren Durcheinander der Paradoxa und des
Verhörs entstand auch nicht eben ein klares Bild. So bleibt, was
Flacius von Wesel zu erzählen weiß, dürftig und undeutlich; teil-
weise ist es auch unrichtig, eine gewaltsame Umbiegung ins Prote-
stantische, das Wesel ganz fernlag1.
In ganz andere Beleuchtung rückt der Prozeßbericht in der
Erneuerung, die der gelehrte englische Pfarrer Edward Brown dem
Fasciculus Ortwins 1690 in London angedeihen ließ2. Eben erst
war die Gefahr der Gegenreformation für England durch die glorious
revolution und die Erhebung des Oraniers auf den Thron überwun-
den. Noch einmal galt es den Engländern recht deutlich vor Augen
zu rücken, was die Herrschaft der katholischen Kirche für die
Unterdrückung persönlicher Freiheitsrechte bedeute, die Greuel der
festländischen Inquisition und des Ketzergerichts ihnen kräftig aus-
zumalen. Dazu war nun unser Prozeßbericht unter den Stücken
Ortwins ganz besonders geeignet, und so wurde er denn mit wahrem
Behagen von dem Herausgeber glossiert: überall unterstrichen
seine Randnoten die grobe Anmaßung, das schlechte Latein und
die theologische Beschränktheit des Inquisitors, während Johann
von Wesel als ein aufgeklärter, verständiger Mann seinen Beifall
fand3.
In ähnlicher Richtung bewegten sich schließlich die Meinungs-
äußerungen der aufgeklärten Mainzer katholischen Gelehrten, die
100 Jahre später noch einmal aus rein lokalgeschichtlichem In-
teresse das Andenken des Ketzerprozesses von 1479 erneuerten.
Und zwar fast gleichzeitig an zwei verschiedenen Stellen: in Joh.
Peter Schunks Beyträgen zur Mainzer Geschichte (Bd. I, 1788,
1 Gratis miraque gratia per fidem in Christum salvari omnes. Liberum
arbitrium nihil esse u. a. m.; s. Catalogus testium veritatis, Ausg. v. 1562 (Ar-
gentinae), p. 560.
2 Das Werk scheint in Deutschland weit verbreitet'; die meisten Dar-
steller Wesels haben anscheinend danach gearbeitet und sich nicht immer klar
gemacht, was alte Überlieferung, was Brownsches Zitat ist. Das vielgenannte
Paradoxon: „Ich veracht den Bapst, die Kirch und Concilia. Ich lob Chri-
stum“ sollte man nicht immer in der lateinischen Übersetzung Browns
zitieren.
3 Der Herausgeber der Mainzer Monatschrift (s. folgende Anmerkung!)
hat die Noten Browns irrigerweise Ortwin Gratius zugeschrieben.
Gerhard Ritter:
mit ihm nicht anzufangen. Der Ablaßtraktat, den Flacius kannte,
hatte doch mit den lutherischen Thesen kaum etwas anderes ge-
meinsam, als rein äußerlich die Verwerfung der Indulgenzen als
solche. Und aus dem wirren Durcheinander der Paradoxa und des
Verhörs entstand auch nicht eben ein klares Bild. So bleibt, was
Flacius von Wesel zu erzählen weiß, dürftig und undeutlich; teil-
weise ist es auch unrichtig, eine gewaltsame Umbiegung ins Prote-
stantische, das Wesel ganz fernlag1.
In ganz andere Beleuchtung rückt der Prozeßbericht in der
Erneuerung, die der gelehrte englische Pfarrer Edward Brown dem
Fasciculus Ortwins 1690 in London angedeihen ließ2. Eben erst
war die Gefahr der Gegenreformation für England durch die glorious
revolution und die Erhebung des Oraniers auf den Thron überwun-
den. Noch einmal galt es den Engländern recht deutlich vor Augen
zu rücken, was die Herrschaft der katholischen Kirche für die
Unterdrückung persönlicher Freiheitsrechte bedeute, die Greuel der
festländischen Inquisition und des Ketzergerichts ihnen kräftig aus-
zumalen. Dazu war nun unser Prozeßbericht unter den Stücken
Ortwins ganz besonders geeignet, und so wurde er denn mit wahrem
Behagen von dem Herausgeber glossiert: überall unterstrichen
seine Randnoten die grobe Anmaßung, das schlechte Latein und
die theologische Beschränktheit des Inquisitors, während Johann
von Wesel als ein aufgeklärter, verständiger Mann seinen Beifall
fand3.
In ähnlicher Richtung bewegten sich schließlich die Meinungs-
äußerungen der aufgeklärten Mainzer katholischen Gelehrten, die
100 Jahre später noch einmal aus rein lokalgeschichtlichem In-
teresse das Andenken des Ketzerprozesses von 1479 erneuerten.
Und zwar fast gleichzeitig an zwei verschiedenen Stellen: in Joh.
Peter Schunks Beyträgen zur Mainzer Geschichte (Bd. I, 1788,
1 Gratis miraque gratia per fidem in Christum salvari omnes. Liberum
arbitrium nihil esse u. a. m.; s. Catalogus testium veritatis, Ausg. v. 1562 (Ar-
gentinae), p. 560.
2 Das Werk scheint in Deutschland weit verbreitet'; die meisten Dar-
steller Wesels haben anscheinend danach gearbeitet und sich nicht immer klar
gemacht, was alte Überlieferung, was Brownsches Zitat ist. Das vielgenannte
Paradoxon: „Ich veracht den Bapst, die Kirch und Concilia. Ich lob Chri-
stum“ sollte man nicht immer in der lateinischen Übersetzung Browns
zitieren.
3 Der Herausgeber der Mainzer Monatschrift (s. folgende Anmerkung!)
hat die Noten Browns irrigerweise Ortwin Gratius zugeschrieben.