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Lohmeyer, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1927/28, 4. Abhandlung): Kyrios Jesus: eine Untersuchung zu Phil. 2,5-11 — Heidelberg, 1928

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https://doi.org/10.11588/diglit.38938#0025
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Kyrios Jesus.

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Was aber ist die religiöse Bedeutung des Bildes ? Es ist, kurz
gesagt, der Gedanke der Versuchung. Immer weiß sich der Glaube
in den ihm eigentümlichen Akten dem Streit von Gut und Böse
entnommen, weiß sich als die letzte Bedingung, von der aus ein
solcher Widerstreit erst möglich ist, immer aber auch notwendig an
die Auseinandersetzung gebunden und gleichsam in ihr verhaftet
Im Glauben wird also die Idee des Guten existent; sie ist der Sinn
und die Wirklichkeit seines Tuns; und mit tiefer Bedeutung und
begeisterter Stärke hat das Urchristentum an dem Satze festge-
halten, daß seine Gläubigen die „Heiligen“ sind. Aber indem so
die Idee des Guten sich aus dem Ineinander löst, indem sie durch
den dialektischen Streit mit dem Bösen verflochten ist, indem sie
durch den Glauben als eigene und überlegene Wirklichkeit gesetzt
wird, die die Möglichkeit des Glaubens schafft, wird auch das
Böse existent. Das Ineinander von Gut und Böse ist durch die
ursprüngliche Macht des Glaubens zerrissen und in ein Aus- und
Gegeneinander gewandelt. So tritt das Böse jetzt an den Glauben,
der durch die für sich seiende Wirklichkeit des Guten begründet
ist, gleichsam von außen heran; es prüft ihn, um ihn aus dem Beiche
des Glaubens zu „rauben“, es versucht ihn. So ist der Gedanke der
Versuchung nichts anderes als eine religiöse Formel für den dialek-
tischen Widerstreit von Gut und Böse.
Noch ein weiteres Moment liegt in diesen Gedanken. Indem der
Glaube die Idee des Guten als eine transzendente Wirklichkeit
setzt, erfährt er zugleich die Begründung seiner eigenen Wirklich-
keit. Er erlebt die Geburt seines Ichs. Und in diesem Erleben erfährt
er nur die gleiche Macht, durch die die Existenz der naturhaften
und geschichtlichen Wirklichkeit begründet ist. Weil er weiß, daß
er eine neue Schöpfung ist, weiß er auch von der Schöpfung der Welt
durch Gott. So enthält der Glaube immer ein kosmogonisches
Element; seine eigene Erfahrung ist die Wiederholung des urzeit-
lichen Aktes der Weltschöpfung, und was ihm geschieht, ist einmal
urbildlich am Anfang der Tage geschehen. Ist aber mit dem Begriff
des Glaubens auch der Begriff der Versuchung gesetzt, so muß auch
dem Gedanken der Weltschöpfung wie ein dunkler Schatten der
Gedanke der Versuchung zur Seite gehen. Und wie sinnvoll nicht
zu fragen ist, warum Gott die Welt geschaffen habe — denn der
Gedanke der Weltschöpfung ist im strengen Sinne ein letzter Begriff
des Glaubens — so ist auch nicht zu fragen, warum die Versuchung
eingetreten ist; auch sie ist ein mit dem Prinzip des Glaubens
 
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