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Ernst Hoffmann.
Das erste Lehrstück nennt sich Coinciclentia oppositorum; es
beruht auf einem bestimmten Gedanken, der dem Cusanus auf der
Seefahrt von Byzanz nach Italien aufblitzte, als er im Jahre
1438 Kirchenfürsten des Ostens zum Unionskonzil ins Abendland
begleitete. Cusanus pflegt die Coincidentia oppositorum klar zu
machen an einem mathematischen Beispiel:
Der Inhalt des Quadrats a2 ist arithmetisch rational; der
Inhalt des Kreises 7tr2 ist arithmetisch irrational. Ich kann beide
endlichen Figuren nicht aneinander messen, ich kann die eine nicht
in die andere verwandeln. Sie sind Mpposita’, zwischen denen eine
Vomparatio’ zunächst nicht möglich ist.
Nun aber hat Cusanus von seiner Studienzeit in Padua an die
griechischen Mathematiker gelesen. Wie machen sie es, daß den-
noch Quadrat und Kreis ineinander übergeführt, daß die opposita
miteinander verglichen, ja zur Einheit gebracht werden können ?
Die griechischen Mathematiker haben die, wahrscheinlich im
Problemzusammenhang mit dem Platonischen YLyvEodka elq oimav
entstandene1 Exhaustionsmethode. Sie schreiben dem Kreise ein
Quadrat ein und lassen dies Viereck zum regelmäßigen Fünfeck,
Sechseck usw. wachsen. Die Zahl der Ecken wird immer größer;
solange n aber endlich bleibt, wird das Vieleck nie mit dem Kreise
identisch. Sobald hingegen n als eine unendlich große Zahl ge-
dacht wird, ist das n-Eck ein Kreis geworden, cl. h. der Kreisinhalt
ist ausdrückbar durch das absolut größte dieser regelmäßigen
Polygone.
Die Mathematik liefert also eine Erkenntnisart, welche es nicht
bei der Opposition endlicher Gegensätze bewenden läßt, sondern
welche die Komparation zwischen ihnen ermöglicht. Daher die
einzigartige Rolle, welche Cusanus der Mathematik für unser Denken
zuschreibt. Ohne Mathematik hätten wir nur einerseits den "Tran-
scensus’ ins Absolute, Unendliche und andrerseits das Verharren
im Bereich des bloßen "numerare, nominare, mensurare5, also im
Bereich des Relativen. Die Mathematik aber zeigt einen Weg vom
Relativen zum Absoluten, sie gibt eine 'abstracta veritas in ra-
tione’. Das Resultat ist also:
Die Gegensätze bleiben einerseits, im Endlichen, erhalten und
stehen dennoch, unter dem Gesichtspunkt des Unendlichen, inner-
halb einer höheren Einheit.
1 Vgl. meine Abhandlung Methexis und Metaxy bei Platon (Sokrates,
1919) S. 66 Anm. 3.
Ernst Hoffmann.
Das erste Lehrstück nennt sich Coinciclentia oppositorum; es
beruht auf einem bestimmten Gedanken, der dem Cusanus auf der
Seefahrt von Byzanz nach Italien aufblitzte, als er im Jahre
1438 Kirchenfürsten des Ostens zum Unionskonzil ins Abendland
begleitete. Cusanus pflegt die Coincidentia oppositorum klar zu
machen an einem mathematischen Beispiel:
Der Inhalt des Quadrats a2 ist arithmetisch rational; der
Inhalt des Kreises 7tr2 ist arithmetisch irrational. Ich kann beide
endlichen Figuren nicht aneinander messen, ich kann die eine nicht
in die andere verwandeln. Sie sind Mpposita’, zwischen denen eine
Vomparatio’ zunächst nicht möglich ist.
Nun aber hat Cusanus von seiner Studienzeit in Padua an die
griechischen Mathematiker gelesen. Wie machen sie es, daß den-
noch Quadrat und Kreis ineinander übergeführt, daß die opposita
miteinander verglichen, ja zur Einheit gebracht werden können ?
Die griechischen Mathematiker haben die, wahrscheinlich im
Problemzusammenhang mit dem Platonischen YLyvEodka elq oimav
entstandene1 Exhaustionsmethode. Sie schreiben dem Kreise ein
Quadrat ein und lassen dies Viereck zum regelmäßigen Fünfeck,
Sechseck usw. wachsen. Die Zahl der Ecken wird immer größer;
solange n aber endlich bleibt, wird das Vieleck nie mit dem Kreise
identisch. Sobald hingegen n als eine unendlich große Zahl ge-
dacht wird, ist das n-Eck ein Kreis geworden, cl. h. der Kreisinhalt
ist ausdrückbar durch das absolut größte dieser regelmäßigen
Polygone.
Die Mathematik liefert also eine Erkenntnisart, welche es nicht
bei der Opposition endlicher Gegensätze bewenden läßt, sondern
welche die Komparation zwischen ihnen ermöglicht. Daher die
einzigartige Rolle, welche Cusanus der Mathematik für unser Denken
zuschreibt. Ohne Mathematik hätten wir nur einerseits den "Tran-
scensus’ ins Absolute, Unendliche und andrerseits das Verharren
im Bereich des bloßen "numerare, nominare, mensurare5, also im
Bereich des Relativen. Die Mathematik aber zeigt einen Weg vom
Relativen zum Absoluten, sie gibt eine 'abstracta veritas in ra-
tione’. Das Resultat ist also:
Die Gegensätze bleiben einerseits, im Endlichen, erhalten und
stehen dennoch, unter dem Gesichtspunkt des Unendlichen, inner-
halb einer höheren Einheit.
1 Vgl. meine Abhandlung Methexis und Metaxy bei Platon (Sokrates,
1919) S. 66 Anm. 3.