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Hoffmann, Ernst; Heidelberger Akademie der Wissenschaften / Philosophisch-Historische Klasse [Editor]
Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse (1929/30, 3. Abhandlung): Das Universum des Nikolaus von Cues — Heidelberg, 1930

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https://doi.org/10.11588/diglit.39956#0014
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14

Ernst Hoffmann.

Wenn wir jetzt auf ein zweites Lehrstück, die Complicatio und
Explicatio, eingehen, so scheint dessen Lehrinhalt auf den ersten
Blick dem von der Coincidentia oppositorum in auffälliger Weise
zu widersprechen1; aber Cusanus läßt selber das zweite Lehrstück
unmittelbar auf das erste folgen, nennt sie beide noch in späten
Schriften sozusagen in einem Atem und erläutert auch das zweite
Lehrstück wiederum an einem mathematischen Beispiel, so daß
von Anfang an das Mittel, beide zu verbinden, schon durch seine
Darstellung an die Hand gegeben ist.
Der Mathematiker unterscheidet Punkt, Linie, Fläche, Körper.
Aber diese elementaren Gebilde sind für die Größenlehre keines-
wegs nur quantitativ, nur additiv verschieden; sondern der Unter-
schied von Punkt und Linie ist der, daß im Punkte dasjenige Sein
komplizit vorhanden ist, welches in der Linie explizit zutage tritt.
Die Linie ist die Entfaltung des imPunkt angelegten, noch ein-
gefalteten Seins. Und so ist die Fläche die Explikation der Linie,
der Körper die Explikation der Fläche. So muß der Mathematiker
denken: 'mens ante compositum lineam incompositum punctum
contemplatur. Punctum enim signum est, linea vero signatum’ (De
non aliud Übinger S. 192). Die Explikation ist das Erkenntnis-
mittel, durch welches allein2 der Verstand die Regel und Ordnung
der elementaren Gebilde denken kann. 'Linea est puncti evo-
lutio .... Unde si tollis punctum, deficit omnis magnitudo’
Idiot. III, 9.
Wiederum also ist der Gedanke des Cusanus erkenntnis-
theoretisch gerichtet. Er verwendet das Lehrstück, um zu zeigen,
daß die Reihenbildung, die der erkennende Intellekt erzeugt, nicht
die eines bloß graduellen und additiven Anstiegs, sondern vielmehr
die einer fortgesetzten Entwicklung ist. Dieses Prinzip aber wendet
der Intellekt auf die Gegenstände der Mathematik an, nicht weil
er es erst aus ihnen herausliest, sondern weil es das Prinzip seines
eigenen Wachstums ist. Von diesem Prinzip, von der schöpferischen
Einheit, hat der Geist 'präzises’ Wissen3. Der menschliche Geist
1 Man hat das erste Lehrstück als theistisch, das zweite als pantheistisch
bezeichnet und beide als unvereinbar erklärt. Die richtige Orientierung von
der Docta ignorantia her hat schon G. Schneiderreit gesucht, Die Einheit i. d.
System des Nikolaus v. Kues. Progr. Berlin 1902.
2 Inwiefern in dem Begriffe der Größe, der bei Cusanus im Entstehen
ist, eine neue Definition des Seins sich vorbereitet, hat Cassirer in seinem
grundlegenden Werke Das Erkenntnisproblem I S. 66ff. aufs schärfste be-
leuchtet. Siehe ebenda die Anmerkungen 36—39.
3 Vgl. das wichtige Kapitel De coni. I, 7.
 
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