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Ernst Hoffmann.
und doch in die Vielheit sich zu entfalten. Cusanus verlangt vom
Intellekt, daß er auf seine eigene Simplizität zurückblickt und sie
dann als Werkzeug der Erkenntnisarbeit verwendet ('suam simplici-
tatem respicere et hac simplicitate instrumento uti’). Die Mittel
für sein Produzieren kann er nur in sich selber finden: 'mentem
nostram, quae mathematicalia fabricat, ea quae sunt sui officii,.
verius apud se habere quam sint extra ipsam’ (Ber. 32). So ist unser
Geist einerseits dem Absoluten verwandt, wofern dieses ihm als
methodisches Prinzip innewohnt; und er kann andererseits ein
Analogon zur Welt heißen, sofern alle Reihung sinnlicher Vielheit
erst durch ihn gesetzt wird, in ihm komplizit enthalten1 ist: 'mentis
unitas coniecturarum entitas’ (De coni. I, 3). Ja, erst indem er
selber zur Vielheit wird, schafft er die Reihe, die Folge, die Ordnung,
aus dem Punkt die Linie, aus der Einheit die Zahl, aus der Ruhe die
Bewegung, aus dem. Jetzt die Zeit. Bleiben wir bei diesem letzten
Beispiel: Die Reihung in Tage, Monate, Jahre ist eben eine explizite
'Ordnung’ aus komplizitem Jetzt. Der Moment ist 'temporis sub-
stantia’, wie die Bewegung 'ordinata quies’ ist. Die Zeit also beruht
auf methodischer Reihenbildung und Sonderung in Glieder: all dies
ist im Geiste: 'ordo relucentia sapientiae’ (De venat. sap. de X cam-
po sc. ordine), also die Zeit ist in ihm, nicht er in ihr. Der sich expli-
zierende Geist setzt erst der Zeit ihre Form: die der Sukzession.
Und er geht in die Zeit nur ein, indem er diese von ihm geschaffene
Form der Sukzession als Instrument benutzt, um damit zu messen.
'Annus, mensis, horae instrumenta mensurae temporis per homi-
nem creatae. Sic tempus, cum sit mensura motus, mensurantis ani-
mae est instrumentum. Non igitur dependet ratio animae a tem-
pore, sed ratio mensurae motus, quae tempus dicitur, ab anima
rationali2 dependet’. — Dieser durch die Form seines begrifflichen
Denkens aus der Einfalt3 in die Vielfältigkeit sich entfaltende In-
tellekt, ja dieser in die — der Idee nach —■ unendliche Vielfältig-
keit der Begriffe sich entfaltende Intellekt — er ist keine Inkonse-
quenz in der Lehre des Cusanus. Es wäre kein Einwand, zu sagen:
Wenn es nur das Unendliche und das Endliche geben soll, dann
1 Über den Cusanischen Begriff der coniectura in diesem Problem-
zusammenhang s. Cassirer, Erkenntnisproblem I, S. 58ff.
2 De ludo gl. II. fol. 165 r. Vgl. Idiot. III, 15: motum non tarn
mensurare mentem quam mens mensurat motum. Unde mens motu suo
intellectivo omnem successivum motum videtur complicare.
3 Vgl. Plat. Theaet. 184d.
Ernst Hoffmann.
und doch in die Vielheit sich zu entfalten. Cusanus verlangt vom
Intellekt, daß er auf seine eigene Simplizität zurückblickt und sie
dann als Werkzeug der Erkenntnisarbeit verwendet ('suam simplici-
tatem respicere et hac simplicitate instrumento uti’). Die Mittel
für sein Produzieren kann er nur in sich selber finden: 'mentem
nostram, quae mathematicalia fabricat, ea quae sunt sui officii,.
verius apud se habere quam sint extra ipsam’ (Ber. 32). So ist unser
Geist einerseits dem Absoluten verwandt, wofern dieses ihm als
methodisches Prinzip innewohnt; und er kann andererseits ein
Analogon zur Welt heißen, sofern alle Reihung sinnlicher Vielheit
erst durch ihn gesetzt wird, in ihm komplizit enthalten1 ist: 'mentis
unitas coniecturarum entitas’ (De coni. I, 3). Ja, erst indem er
selber zur Vielheit wird, schafft er die Reihe, die Folge, die Ordnung,
aus dem Punkt die Linie, aus der Einheit die Zahl, aus der Ruhe die
Bewegung, aus dem. Jetzt die Zeit. Bleiben wir bei diesem letzten
Beispiel: Die Reihung in Tage, Monate, Jahre ist eben eine explizite
'Ordnung’ aus komplizitem Jetzt. Der Moment ist 'temporis sub-
stantia’, wie die Bewegung 'ordinata quies’ ist. Die Zeit also beruht
auf methodischer Reihenbildung und Sonderung in Glieder: all dies
ist im Geiste: 'ordo relucentia sapientiae’ (De venat. sap. de X cam-
po sc. ordine), also die Zeit ist in ihm, nicht er in ihr. Der sich expli-
zierende Geist setzt erst der Zeit ihre Form: die der Sukzession.
Und er geht in die Zeit nur ein, indem er diese von ihm geschaffene
Form der Sukzession als Instrument benutzt, um damit zu messen.
'Annus, mensis, horae instrumenta mensurae temporis per homi-
nem creatae. Sic tempus, cum sit mensura motus, mensurantis ani-
mae est instrumentum. Non igitur dependet ratio animae a tem-
pore, sed ratio mensurae motus, quae tempus dicitur, ab anima
rationali2 dependet’. — Dieser durch die Form seines begrifflichen
Denkens aus der Einfalt3 in die Vielfältigkeit sich entfaltende In-
tellekt, ja dieser in die — der Idee nach —■ unendliche Vielfältig-
keit der Begriffe sich entfaltende Intellekt — er ist keine Inkonse-
quenz in der Lehre des Cusanus. Es wäre kein Einwand, zu sagen:
Wenn es nur das Unendliche und das Endliche geben soll, dann
1 Über den Cusanischen Begriff der coniectura in diesem Problem-
zusammenhang s. Cassirer, Erkenntnisproblem I, S. 58ff.
2 De ludo gl. II. fol. 165 r. Vgl. Idiot. III, 15: motum non tarn
mensurare mentem quam mens mensurat motum. Unde mens motu suo
intellectivo omnem successivum motum videtur complicare.
3 Vgl. Plat. Theaet. 184d.