Fabel, Aretalogie, Novelle.
53
III. Kapitel.
Die Novelle von der treulosen Witwe
bei Petron und in der Fabel.
A. Vorbemerkungen.
Unter den „kleinen Bildern aus dem bürgerlichen Leben“ \ die
mit oder ohne lehrhafte Wendung oder mit ironischer Spitze ver-
sehen in die antiken Fabelsammlungen kamen, ist die „Novelle“
von der treulosen Witwe die berühmteste. Wir kennen sie in zwei
Hauptformen, die eine durch Äsop, die andre durch Phädrus
und Romulus vertreten1 2, und dieser Form ist engst verwandt die
Novelleneinlage von der 'Matrone in Ephesos’ im Petron.3
Äsop4 gibt ohne Promythion und Epimythion die schlichte
fabula: Eine Witwe klagt täglich am Grab ihres Mannes; ein in
der Nähe pflügender Bauer bekommt Lust auf sie, läßt sein Ge-
spann im Stich, geht zu ihr, weint auch. Er habe eine schöne
Erau begraben, und Tränen seien Trost. Sie ist der gleichen
Meinung, hat auch nichts wider seinen Vorschlag einzuwenden, ein-
ander als Ersatz der entrissenen Ehehälften zu dienen. Gesagt,
getan. Währenddessen stiehlt ein Dieb die Ränder. Auf sein Feld
zurückgekehrt, kann der Bauer sein Gespann nicht finden und weint
heftig. Als die Frau kommt und wieder Tränen sieht, antwortet
er: „jetzt weine ich in Wahrheit“.
In zwei Hauptmotiven stimmt trotz verschiedenartiger Ein-
kleidung die Fabel mit der durch die drei Römer vertretenen Ge-
schichte (Ph. app. 13; Rom. no. 59; P. c. 110ff.) überein: im raschen
Erfolg des Verführers am Grabe des Mannes, und in der Tatsache,
daß dem Verführer, während er bei der Frau liegt, etwas gestohlen
wird, das er beaufsichtigen müßte. Eine „Moral“ wird nicht ge-
zogen, aber klärlich handelt es sich um ein Exemplum sowohl für
1 Rohde, Gr. Roman 3, 595.
2 Von Wienert a. a. 0. 37 als reine Novellen ausgeschieden.
3 Die drei römischen Fassungen verglich eingehender Thiele, Hermes 43
(1908), 361 ff., kürzer in seiner Ausgabe, Der latein. Äsop des Romulus (1910),
p. XXV f. und zu no. 59, S. 192ff. Turzewitsch, Alte Erzählungen von der Witwe
(Neshin 1909) kenne ich nur aus Semenow, B. phil. Wochenschr. 1910, 967.
4 109 Halm (= Babrius ed. Gitlbauer 213), in der kleineren Ausgabe von
Chambry (1927) nicht enthalten, die große ist mir nicht zugänglich. Die für die
Römer wichtigen Textteile sind unten in den Kommentar aufgenommen.
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III. Kapitel.
Die Novelle von der treulosen Witwe
bei Petron und in der Fabel.
A. Vorbemerkungen.
Unter den „kleinen Bildern aus dem bürgerlichen Leben“ \ die
mit oder ohne lehrhafte Wendung oder mit ironischer Spitze ver-
sehen in die antiken Fabelsammlungen kamen, ist die „Novelle“
von der treulosen Witwe die berühmteste. Wir kennen sie in zwei
Hauptformen, die eine durch Äsop, die andre durch Phädrus
und Romulus vertreten1 2, und dieser Form ist engst verwandt die
Novelleneinlage von der 'Matrone in Ephesos’ im Petron.3
Äsop4 gibt ohne Promythion und Epimythion die schlichte
fabula: Eine Witwe klagt täglich am Grab ihres Mannes; ein in
der Nähe pflügender Bauer bekommt Lust auf sie, läßt sein Ge-
spann im Stich, geht zu ihr, weint auch. Er habe eine schöne
Erau begraben, und Tränen seien Trost. Sie ist der gleichen
Meinung, hat auch nichts wider seinen Vorschlag einzuwenden, ein-
ander als Ersatz der entrissenen Ehehälften zu dienen. Gesagt,
getan. Währenddessen stiehlt ein Dieb die Ränder. Auf sein Feld
zurückgekehrt, kann der Bauer sein Gespann nicht finden und weint
heftig. Als die Frau kommt und wieder Tränen sieht, antwortet
er: „jetzt weine ich in Wahrheit“.
In zwei Hauptmotiven stimmt trotz verschiedenartiger Ein-
kleidung die Fabel mit der durch die drei Römer vertretenen Ge-
schichte (Ph. app. 13; Rom. no. 59; P. c. 110ff.) überein: im raschen
Erfolg des Verführers am Grabe des Mannes, und in der Tatsache,
daß dem Verführer, während er bei der Frau liegt, etwas gestohlen
wird, das er beaufsichtigen müßte. Eine „Moral“ wird nicht ge-
zogen, aber klärlich handelt es sich um ein Exemplum sowohl für
1 Rohde, Gr. Roman 3, 595.
2 Von Wienert a. a. 0. 37 als reine Novellen ausgeschieden.
3 Die drei römischen Fassungen verglich eingehender Thiele, Hermes 43
(1908), 361 ff., kürzer in seiner Ausgabe, Der latein. Äsop des Romulus (1910),
p. XXV f. und zu no. 59, S. 192ff. Turzewitsch, Alte Erzählungen von der Witwe
(Neshin 1909) kenne ich nur aus Semenow, B. phil. Wochenschr. 1910, 967.
4 109 Halm (= Babrius ed. Gitlbauer 213), in der kleineren Ausgabe von
Chambry (1927) nicht enthalten, die große ist mir nicht zugänglich. Die für die
Römer wichtigen Textteile sind unten in den Kommentar aufgenommen.